Sherlock Holmes und das Phantom der Oper
hatte.
Was man auch von Meyerbeers Musik halten mochte, die ganze Angelegenheit ging reibungslos über die Bühne. Es muß bereits nach Mitternacht gewesen sein, als ich nach dem fünften und letzten Akt aus der Traumwelt auftauchte, in der ich mehr als vier Stunden lang geweilt hatte, und in die kühle Nachtluft auf dem quirligen Place de l’Opéra gelangte. Ich wollte gerade hinüberschlendern ins Café de la Paix, um dort noch ein leichtes kleines Nachtessen zu mir zu nehmen, als ich eines Aufruhrs am Bühneneingang in der Nähe der Rue Gluck gewahr wurde, dort, wo die Künstler das Theater betreten.
Das Stimmengewirr zog mich an, und ich sah zu, wie einige Leute versuchten, einen Herrn mittleren Alters im Abendanzug zurückzuhalten. Der Mann trug einen Geigenkasten und schien sich verzweifelt seinen Weg durch die protestierende Menge bahnen zu wollen.
»Niemals!« rief er und versuchte, sich mit seiner Geige durch das Gedränge zu manövrieren. »Ich würde eher sterben, als noch eine einzige Vorstellung lang in diesem gottverlassenen Haus zu spielen!« Er kam ganz nah an mir vorbei, und ich kann zu seinem wilden Gesichtsausdruck nur soviel sagen, daß ich den Eindruck hatte, einen Mann vor mir zu haben, dessen Verstand an einem seidenen Faden hing.
Trotz inständigen Bittens und einigen Gelächters in seinem Kielwasser torkelte der Geiger fast besinnungslos in den Verkehr auf dem Place de l’Opéra hinein. So verwirrt war er, daß er in die falsche Richtung sah und augenblicklich von einer Kutsche niedergestreckt wurde. Ich eilte ihm zu Hilfe, während sich eine zweite Menschenansammlung um ihn herum bildete.
»Ich hole Ihnen einen Arzt«, erbot ich mich, als ich sah, daß ihm Blut über die Stirn rann, dort, wo er mit dem Kopf auf dem Straßenrand aufgeschlagen war.
»Lassen Sie mich in Ruhe! Hol Sie der Teufel!« war seine einzige Antwort. Auch anderen gutmeinenden Leuten schleuderte er ähnliche Beschimpfungen entgegen, während er sich seinen Weg durch die Menge erzwang. Ich konnte nur zusehen, wie er ein zweites Mal an mir vorbeitaumelte, während er sich an seinem Geigenkasten festhielt wie an einem Lebensretter. Schon bald verschmolz er mit der wogenden Masse und war nicht mehr zu sehen. Ich hatte keine Ahnung, was den Geiger in solche Angst versetzt hatte, aber die Angelegenheit hatte mich plötzlich auf eine Idee gebracht.
»Brauchen Sie nicht einen neuen Geiger?« fragte ich am Bühneneingang.
»Vorspielen morgen um halb drei«, brummte ein älterer Mann von beträchtlicher Körperfülle und nur wenigen Zähnen, dessen Aufgabe es zu sein schien, unerwünschte Besucher daran zu hindern, über die Schwelle zu treten.
»Warum hat dieser Bursche –?«
»Warum? Wer weiß in diesem Haus schon, warum irgend etwas passiert!« rief er. »Sprechen Sie Französisch? Morgen um halb drei! «
»Halb drei.«
Ich versuchte, mich in Geduld zu fassen, und kehrte in meine Wohnung zurück, wo ich meine Geige neu stimmte. Am folgenden Tag übte ich bis in die Mittagszeit hinein und hörte erst auf, nachdem es mehrmals an die Wand meines Wohnzimmers geklopft hatte und mir klar wurde, daß Schlimmeres kommen würde, falls ich nicht auf der Stelle von meinem Tun abließ. Ich studierte das Scherzo aus dem Midsummer Night’s Dream und die ›Meditation‹ aus Thaïs , beides Stücke, von denen ich glaube, daß sie einem Zuhörer einen guten Überblick über meine Fähigkeiten geben würden.
In Gedanken hatte ich die Frage, wie ich mir meinen Lebensunterhalt verdienen sollte, urplötzlich beantwortet. Das einzige, was mich im nachhinein noch wundert, ist der Umstand, daß ich so lange gebraucht habe, um auf diese Idee zu kommen. Jetzt aber, nachdem ich einmal zu diesem Entschluß gekommen war, hatte ich nichts anderes mehr im Sinn, als den Posten zu erringen, nichts anderes, als meine Violine im Orchestergraben der Pariser Opéra zu spielen, nichts anderes als (sozusagen) für mein Brot zu singen. Nicht einen Augenblick lang kam mir der Gedanke, die Musik zu meiner Lebensaufgabe zu machen, aber in meiner augenblicklichen Stimmung entwickelte sich diese Grille zum Gipfelpunkt meines Ehrgeizes.
Am nächsten Tag benutzte ich den Künstlereingang (nicht ohne ein gewisses Prickeln, das gebe ich zu) und fand mich in Gesellschaft von sechs oder sieben anderen Bewerbern wieder, die einander voller Nervosität ansahen, während sie darauf warteten, aufgerufen zu werden. Während ich so dasaß, nahm auch meine eigene
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