Sherlock Holmes und Old Shatterhand (German Edition)
die sich noch nicht sehr an die europäischen Haartrachten gewöhnt hat; was auch für die kurze Spanne Ihres Hierseins sprechen würde. Allerdings, dies räume ich ein, könnten an dem gemischten Stil auch die Mädchen in unseren einheimischen Friseursalons schuld sein, die mit den exotischen Wickeltechniken nicht vertraut sein mögen.
Dass Sie lange im Fernen Osten lebten, erkenne ich übrigens auch an Ihrer noch immer vorhandenen, gepflegten, zarten Bräune, die sich selbst durch das Tragen von Sonnenschirmen und großen Hüten nicht zur Gänze vermeiden lässt, und dass Sie noch nicht sehr lange wieder in England leben, verrät mir Ihr Schirm. Der elegant geschnitzte Griff mit dem Drachenkopf dürfte einmal für einen Damensonnenschirm angefertigt worden sein. Durch die häufige Benutzung ist er richtiggehend blank poliert, die Konturen des Tieres scheinen regelrecht verwischt. Als Sie in unser oft unwirtliches Klima zurückkehrten, erwies sich die Bespannung des Schirms – es war Seide, wie ich vermute? – als unzureichend und Sie ließen sie ersetzen, mit diesem typisch englischen Regenschirmstoff: Anthrazit mit dunkel abgesetzten Karos. Diese Bespannung aber ist ganz neu, das Wachs glänzt noch. Und hätten Sie nicht so gerne im Fernen Osten gelebt, hätten Sie sich all dieser Mitbringsel und Gewohnheiten sicherlich ganz schnell entledigt.«
»Mr. Holmes, Sie haben in allen Punkten recht. Ja, meine Brosche wurde einmal gestohlen, und der Dieb versuchte, das Drachenauge, den Rubin, heraus zu brechen. Gott sei Dank wurde er rechtzeitig gefasst und mir schaudert heute noch vor dem Tod, den er sterben musste. Ich habe das nicht gewollt, aber die chinesischen Gesetze sind drakonisch. Regelrecht barbarisch! An der Stelle, an der seine Zange ansetzte, brach ein Stück Metall ab, was leider noch heute zu sehen ist. Aber die Brosche hat mich mein Leben lang begleitet und wird mich, das habe ich bereits verfügt, auch auf meinem allerletzten Weg begleiten.«
»Den Sie, wie ich hoffe, noch lange nicht werden antreten müssen!«
»Das liegt nicht in unserer Hand, Mr. Holmes. Aber auch sonst haben Sie recht. Ich lebe erst seit einem halben Jahr wieder in England. Auch die letzte Mission meines Mannes führte uns beide in unser geliebtes China. Womit wir beim Thema wären. Ich fürchte, wenn Sie mir nicht helfen, werde ich meine letzte Reise doch bald antreten müssen. Ich habe ein schwaches Herz, wenngleich ich nicht schreckhaft bin. Jemand trachtet mir nach dem Leben!«
»Wie abscheulich!«
»Ja, nicht? Oder besser gesagt, etwas trachtet mir danach.«
»Ein Tier?«
»Dann könnte ich mich mit einem der Jagdgewehre meines Mannes zur Wehr setzen. Nein! Schlimmer! Ein Gespenst!«
»Für Geistererscheinungen sollten Sie sich besser an Dr. Doyle wenden, den literarischen Agenten meines Freundes und Kollegen Dr. Watson. Wir ...« Er schaute mich an. »Wir neigen eher dazu, sie ins Reich der Fabel zu verweisen.«
»Die Weiße Frau von Henstiffle Bow Hall erweckt also nicht Ihr Interesse?« Die Stimme von Mrs. Thorndyke klang enttäuscht.
»Ich denke«, warf ich vermittelnd ein, »mein Freund wird nichts dagegen haben, wenn Sie erst einmal Ihr Anliegen vortragen. Danach können wir uns immer noch entscheiden!«
Holmes blinzelte mir amüsiert zu. Er war einverstanden.
»Es ist so«, erläuterte Mrs. Thorndyke. »Das Gespenst versucht augenscheinlich, mich zu Tode zu erschrecken.«
»Mir kommen Sie nicht im Mindesten ängstlich vor, Madame. Was meinen Sie, Watson?«
»Auf keinen Fall! Mrs. Thorndyke macht einen überaus couragierten Eindruck. Auch kennt sie sich offensichtlich mit den Jagdwaffen ihres verstorbenen Herrn Gemahls aus. Ich wüsste nicht ...«
»Und doch ist es so!«, unterbrach mich Mrs. Thorndyke.
»Dann beginnen Sie doch bitte ganz von vorn. Lassen Sie nichts aus.«
»Ich werde es versuchen!«
Holmes lehnte sich gespannt in seinem Sessel zurück. »Unser Sohn Cedric, der wie erwähnt in China geboren wurde, schlug eine militärische Karriere ein und fiel in diesem unseligen Krieg im Kaukasus. Als Leutnant zog er in die Schlacht, zeichnete sich aus und starb an der Spitze einer Eskadron im Range eines Hauptmanns. Das war uns ein Trost. In derselben Schlacht fiel auch der jüngere Bruder meines Mannes, Oberst Benjamin Thorndyke. Seine Frau war schon bei der Geburt ihres ersten Kindes, Roger, gestorben. Der Vater hatte für die Erziehung seines Sohnes wenig Zeit und noch weniger Interesse
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