Verflucht sei Dostojewski
ALS RASSUL DAS BEIL hebt, um es der alten Frau auf den Kopf zu schlagen, schießt ihm plötzlich die Geschichte von Verbrechen und Strafe in den Sinn. Und schmettert ihn nieder. Seine Arme zittern, seine Beine wanken. Das Beil rutscht ihm aus den Händen. Es spaltet den Schädel der Frau, dringt tief in ihn ein. Ohne einen Schrei sinkt die Alte auf den rot-schwarzen Teppich. Ihr Schleier mit dem Apfelblütenmuster schwebt in der Luft, bevor er sich auf ihren schlaffen, fülligen Körper legt. Sie zuckt. Ein letzter Atemzug, zwei vielleicht. Ihre aufgerissenen Augen starren auf Rassul, der mit angehaltenem Atem, fahler als eine Leiche, mitten im Raum steht. Er zittert, sein patu gleitet ihm von den eckigen Schultern. Sein erschrockener Blick versinkt im Strom des Blutes, das aus dem Schädel der Alten rinnt, sich mit dem Rot des Teppichs vermischt, die schwarzen Linien bedeckt und sich dann langsam der fleischigen Hand der Frau nähert, die ein Bündel Geldscheine umklammert. Das Geld wird voller Blut sein.
Los, Rassul, rühr dich!
Nichts.
Rassul?
Was ist in ihn gefahren? Woran denkt er?
An Verbrechen und Strafe . Genau, an Raskolnikow, an dessen Schicksal.
Aber vorher, bevor er die Tat begangen hat, als er sie geplant hat, hat er da nie daran gedacht?
Offenbar nicht.
Oder vielleicht war es diese Geschichte, tief in ihm vergraben, die ihn zum Mord angestiftet hat.
Oder vielleicht …
Oder vielleicht … Was? Ist das wirklich der richtige Moment, über seine Tat nachzudenken? Jetzt, wo er die Alte getötet hat, bleibt ihm nur noch, ihr Geld zu nehmen, ihren Schmuck … und zu fliehen.
Flieh!
Er rührt sich nicht. Er steht einfach da. Wie ein verdorrter Baum. Ein toter, in den Fliesen des Hauses verwurzelter Baum. Sein Blick folgt noch immer dem Rinnsal des Blutes, das schon fast die Hand der Frau erreicht hat. Vergiss das Geld! Mach dich aus dem Staub, schnell, bevor die Schwester der Alten auftaucht!
Die Schwester der Alten? Diese Frau hier hat keine Schwester. Sie hat eine Tochter.
Egal, Schwester oder Tochter, das ändert gar nichts. Wer immer das Haus betritt, Rassul wird gezwungen sein, ihn ebenfalls zu töten.
Das Blut hat kurz vor der Hand der Alten die Richtung geändert. Es fließt jetzt auf eine ausgebesserte Stelle des Teppichs zu, wo es eine Lache bildet, nicht weit von einer kleinen Holzschatulle, vollgestopft mit Ketten, Colliers, goldenen Armbändern und Uhren …
Was kümmern dich all diese Details? Schnapp dir die Schatulle und das Geld!
Er kauert sich nieder. Seine Hand zögert, sich nach der Frau auszustrecken, um ihr das Geld wegzunehmen. Ihre Faust ist bereits steif, so fest geschlossen, als wäre sie noch am Leben und umklammerte das Geldbündel mit aller Kraft. Er versucht es noch einmal. Vergeblich. Verwirrt geht sein Blick zu den seelenlosen Augen der Frau. Er sieht sein Spiegelbild darin. Ihre hervortretenden Augen erinnern ihn daran, dass sich der letzte Anblick des Mörders in den Pupillen seines Opfers festsetzt. Angst überfällt ihn. Er weicht zurück. Langsam verschwindet sein Abbild von der Iris der Alten.
» Nana Alia?«, tönt eine Frauenstimme durchs Haus. Da haben wir’s, sie ist da, die, die nicht kommen dürfte. Rassul, es ist aus!
» Nana Alia?« Wer ist das? Ihre Tochter. Nein, es ist keine junge Stimme. Was soll’s. Niemand darf das Zimmer betreten. » Nana Alia!« Die Stimme nähert sich, » nana Alia?«, kommt die Treppe hoch.
Rassul, mach, dass du wegkommst!
Er fliegt durch den Raum wie ein Strohhalm, aufs Fenster zu, öffnet es und springt aufs Dach des Nachbarhauses, lässt den patu ,das Geld, den Schmuck, das Beil, lässt alles zurück.
Am Rand des Daches zögert er, auf die Gasse hinunterzuspringen. Doch der entsetzliche Schrei, der aus dem Zimmer der nana Alia schallt, lässt seine Beine, das Dach, den Berg erbeben … Er stößt sich ab und landet unsanft auf dem Boden. Ein scharfer Schmerz fährt ihm in den Knöchel. Unwichtig. Er muss aufstehen. Die Gasse ist leer. Er muss sich in Sicherheit bringen.
Er rennt.
Er rennt, ohne zu wissen, wohin.
Kommt erst zum Stehen, als er sich in einer Sackgasse inmitten eines Müllhaufens wiederfindet, dessen Gestank in den Nasenflügeln brennt. Er aber spürt nichts mehr. Oder macht sich nichts daraus. Hier bleibt er. Lehnt sich an eine Mauer. Er hört die schreiende Stimme der Frau noch immer. Er weiß nicht, ob sie weiterschreit oder ob ihn der Schrei verfolgt. Er hält den Atem an. Augenblicklich
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