Sherlock Holmes und Old Shatterhand (German Edition)
aufgebracht. Nach Benjamins Tod nahmen mein Mann und ich Roger an Kindes Statt zu uns. Ich glaube sagen zu können, dass es ihm an nichts fehlte. Wir brachten ihm alle Liebe entgegen, die wir unserem eigenen Sohn gegeben hatten, wenn nicht sogar mehr. Trotzdem bereitete er uns viel Kummer. Roger benötigte mehr Zuwendung als Cedric gebraucht hatte, aber auch mehr Führung. Er war ein wilder, oft ungezogener Junge, der nicht gerne las oder lernte. Er war liederlich, neigte sich schon früh dem Glücksspiel zu und trank zu viel, wie sein Vater selig, wenn ich das über einen Helden des Empire sagen darf.«
»Wohin Licht fällt, da ist auch Schatten.«
»Wie wahr! Die Frau, auf die schließlich seine Wahl fiel, bereitete uns ebenfalls wenig Freude. Er schrieb uns, er habe im Ausland geheiratet. Natürlich waren wir begierig, unsere Schwiegertochter kennen zu lernen, denn als solche wollten wir sie begrüßen. Sie können sich kaum vorstellen, wie entsetzt wir waren, als er sie uns dann vorstellte. Es war eine Chinesin! Hsiao Lian hieß sie und war vor ihrer Hochzeit mit Roger Sängerin und Tänzerin gewesen!«
»Nein!«
»Doch! Stellen Sie sich vor! Eb war sich sicher ... ich wage kaum zu wiederholen, was er sagte ... also er war sich sicher ... Roger habe Lian aus einem Haus von zweifelhaftem Ruf herausgeholt. Er benutzte aber ein anderes Wort.«
»Wir verstehen, Madame.«
»Wirklich? Er nannte es ein Blaues Haus . Ich nehme an, das ist so etwas Ähnliches wie Sodom und Gomorrah. Ich wage jedenfalls nicht, mir vorzustellen, wie es dort zugeht! Wie auch immer, von da an waren mein Mann und Roger zerstritten. Roger hat meinem Mann die letzten Lebensjahre verdorben. Immerzu verlangte er Geld. Roger war unersättlich. Er bleibt nie lange bei einer Sache. Mal verkauft er Automobile, mal zieht er als Impresario einer Theatertruppe durch die Lande. Wie ein Zigeuner!
Als mein Mann gestorben war, ließ ich ihn nach England überführen und zog in ein Anwesen, das ich als junges Mädchen von einer Tante geerbt und verkauft hatte, Henstiffle Bow Hall. Eb hatte es, als er noch im aktiven Dienst war, zurückgekauft, als Alterssitz für uns beide. Nun, der liebe Gott hat es anders gewollt und uns nie zusammen dort wohnen lassen. Ich zog mit meiner Schwester Ann dorthin, die fast zur selben Zeit wie ich Witwe geworden war.
Oh, ich benötige Ebs Rat so dringend! Ich habe einen großen Fehler begangen. Weil Roger bei einem Geschäft – ohne seine Schuld, wie er immer beteuerte – viel Geld verloren hatte und praktisch auf der Straße stand, ließ ich mich überreden, ihm den Westtrakt von Henstiffle Bow Hall zu überlassen. Ich bestand allerdings auf eine angemessene Miete. Nur, davon habe ich noch keinen Penny gesehen, und das schon seit vier Monaten. Seit dem Einzug.
Dafür begann dieser Spuk. Erst schwebten Gegenstände in der Luft herum, drehten sich Bilder am Wandhaken und gingen Türen auf oder schlugen zu. Gegenstände sind spurlos verschwunden, um dann nach Tagen urplötzlich wieder aufzutauchen. Eine Schere, ein Buch oder die Mokka-Mühle beispielsweise waren tagelang nirgendwo zu finden. Dann lagen beziehungsweise standen sie eines Morgens auf dem Kaminsims. Es waren noch ein paar andere Dinge, die verschwanden und wieder auftauchten.
Darauf erschien erstmals die Weiße Frau von Henstiffle Bow Hall. Roger zeigte mir ein Buch mit alten Sagen aus der Gegend. Einige Tage, nachdem meine Schwester Ann die Weiße Frau das erste Mal gesehen hatte, starb sie ganz überraschend. Ohne krank gewesen zu sein! Sie trank einfach ihren Tee und starb. Der Arzt meinte, ihr Herz sei stehen geblieben und sagte, so friedlich möchte er dereinst auch einmal aus dieser Welt gehen. Allerdings muss ich hinzufügen, dass Ann ihr Leben lang leidend gewesen war. Wohl darum hatten sie und ihr Mann auch keine Kinder bekommen.«
»In welchem Verhältnis standen Roger und Ihre selige Schwester?«
»Oh, sie verstanden sich besser, als mir lieb sein konnte. Ann hatte einen Narren an Roger gefressen und suchte in einem fort seine Gesellschaft. Roger hier, Roger dort. Roger sagt, Roger meint, Roger möchte ... Sie hatte ihm ihr gesamtes, nicht unbeträchtliches Vermögen vermacht. Ich verstehe bis heute nicht den Grund dafür. Dabei besitzt Roger, wie gesagt, einen ganz furchtbaren Charakter. Er umgibt sich mit den schrecklichsten Menschen, die weit unter seinem Stand sind. Manchmal kommen sogar Chinesen, die nicht sehr Vertrauen erweckend
Weitere Kostenlose Bücher