Shevchenko, A.K.
amerikanisches Herzspray gegen seine Angina Pectoris?
Eine Barbiepuppe für seine Enkelin? Vermutlich wird ein ehemaliger KGB-Oberst
nur schwer damit fertig, dass man jetzt alles, wirklich alles, kriegen kann.
Engpässe und leere Regale waren während der Sowjetzeit sein Vorsprung gewesen,
sein Schlüssel zur Macht: »Wir haben es, aber sie haben es
nicht. Wir haben den Zugang, die Kanäle, den
Einfluss, sie nicht.« Jetzt unterscheiden sich
»wir« und »sie« nur noch durch Zahlen. Freiheit und Wahlmöglichkeit, solange
man genug Geld besitzt.
Taras muss unbedingt mit jemandem reden, er ist so
aufgewühlt. Auf ihn wartet nur seine leere Wohnung, und das eigene Spiegelbild
ist kein besonders fesselnder Gesprächspartner. »Sie können offenbar auch nicht
feiern«, setzt er an. »Der Tag der Roten Armee ist doch auch Ihr Tag.«
»Nicht mehr.« Der Oberst zuckt die Achseln und beäugt
Taras über den Brillenrand hinweg. »Außerdem kann ich mich, obwohl sie ihn
schon vor fast zehn Jahren in >Tag der Verteidiger des Vaterlands<
umbenannt haben, immer noch nicht daran gewöhnen.«
»Dieser Duft - trinken Sie Himbeertee?« Taras beschließt,
das Thema zu wechseln.
»O nein.« Die Miene des Obersts hellt sich auf. »Der wird
aus den Blättern wilder Erdbeeren gemacht. Die wachsen in rauen Mengen auf
meiner Datscha. Das nennt man optimale Verwertung, Leutnant Petrenko. Alles
findet Verwendung: Meine Enkelin pflückt die Beeren, Walentina Nikolajewna,
meine bessere Hälfte, sammelt und trocknet die Blätter. Ich sage Ihnen, dieser
Tee hat magische Wirkung. Ich trinke ihn schon länger, seit wir wilde Erdbeeren
pflanzen, und hab entdeckt, dass er noch mehr Krankheiten heilt, als in den
Ratgebern steht. Das Geheimnis besteht darin, die Blätter Ende Mai zu pflücken,
wenn sie noch ganz frisch sind, in vollem Saft ...« Und ehe Taras sich's
versieht, hängt er fest, nickt nur von Zeit zu Zeit, schon wieder auf die Rolle
des Zuhörers beschränkt.
»Und natürlich sollte man nicht vergessen, wie segensreich
sich der Tee auf ein gewisses Männerproblem auswirkt ...« Der Oberst macht eine
Pause.
Er ist gar nicht so alt, denkt Taras. Pensionierung
bedeutet in dieser Organisation nicht, dass man alt ist. Er nutzt die Pause,
um den Redefluss des Obersts zu unterbrechen. »Faszinierend - aber ich muss
jetzt los. Bald geht die letzte Metro.« Das Echo seiner Schritte in der
riesigen Eingangshalle klingt, als folgte hoch über ihm im Dunkel ein Riese
jeder seiner Bewegungen. Schon der messingne Türgriff warnt Taras vor den
draußen herrschenden Temperaturen. Als er die Tür öffnet, atmet er die nächtliche
Moskauer Winterluft und überquert flott den verlassenen Platz, ohne auf Autos
zu achten - zu spät für den Berufsverkehr und zu kalt. Ein Blizzard fegt über
den Platz, Taras läuft durch wild wirbelnden Schnee. Er kneift die Augen
zusammen, seine Nasenspitze ist taub vor Kälte, noch drei Minuten, dann taucht
er in den warmen Luftstrom ein. Er liebt die Moskauer Metro. Die marmorgraue
Würde der Station Majakowskaja; den patriotischen roten Granit der Pawelezkaja;
die nostalgisch-erbaulichen Fresken mit glücklichen ukrainischen Bauern in der
Station Kiewskaja ... Jedes Mal, wenn er eine Münze in den Schlitz steckt, die
Rolltreppe betritt, in die U-Bahn steigt, hat er das Gefühl, jemand übernehme
die Führung über sein Leben. Weise den Weg; helfe ihm; halte ihn. Nur hier
während dieser Fahrten gesteht er sich ein, dass alles in seinem Leben bloß
noch Ersatz ist - ein billiges Surrogat. Wie
die zichorienbraune Plörre, die sie in der Kantine als koffeinfreien Kaffee
verkaufen. Kein Kick, kaum Geschmack, stets enttäuschend. Und wenn man bedenkt,
dass er jetzt zwei Jahre älter ist als Jesus zum Zeitpunkt seines Todes!
Taras arbeitet für den FSB - den Inlandsgeheimdienst der
Russischen Föderation -, ist aber im Archiv gelandet, statt bei der
Spionageabwehr-Einheit, von der er träumte. Konzentriert,
entschlossen, guter Stratege stand in der Abschlussbeurteilung
der Akademie. Aber da stand noch etwas anderes - ein Wort, das all seine Träume
durchkreuzte. Nationaliät: ukrainisch.
Er hatte an der Mokauer FSB-Akademie am Mitschurinski-Prospekt
studiert, und am Ende seiner Studienzeit war die Ukraine zum Feind geworden.
Wer hätte das voraussehen können? Sehr zum Neid seiner ehemaligen Kommilitonen
lebt er zwar in der Hauptstadt, gibt aber den größten Teil seines mageren
Gehalts für ein schäbiges
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