Shevchenko, A.K.
die
das Wachstuch über den Fenstersimsen fixierten, und sehnte das Läuten der
Schulglocke herbei, das ihm die Freiheit schenkte, die Chance, durch die
verschlafene Dorfstraße zu laufen. Vorbei an der riesigen Pfütze, die nie
austrocknete; vorbei an dem baufälligen zweistöckigen Haus der bäuerlichen
Zentralgenossenschaft, an dem eine verblichene Fahne wehte; vorbei am
Dorfladen, an dem stets ein Vorhängeschloss hing; vorbei an schwarzen und gelbbraunen
Hennen und rotznasigen Kleinkindern, die sich im Staub tummelten. Und dann auf
den Pfad, der in die Frische der feuchten, nach Pilzen duftenden Wälder führte,
zur schiefen, strohgedeckten Hütte, zu seinem geheimen Platz am Ende des
Gemüsebeets, hinter den Mais- und Sonnenblumenfeldern. Dort lag er dann auf dem
Rücken, betrachtete den endlosen Himmel über sich, träumte von der Zeit, wenn
er ein Held sein würde, wenn er wegfahren würde, weit fort von hier, nur diesen
Wolken nach, seinen Träumen nach, und ...
Dieser freie Geist ist immer noch da, tief drinnen.
Während seiner Archivstunden hebt er oft den müden Blick von dem Gekrakel in
den Akten, von den hastig getippten Urteilen, und blickt auf die verhasste
grüne Wand, riecht die vertraute billige Farbe und fühlt sich verurteilt, genau
wie die Menschen, deren Schicksale sich hier vor ihm auftürmen. Diese Akten
umweht eine dem Untergang geweihte Unendlichkeit. Statt weniger zu werden,
vermehren sie sich, vervielfältigen sie sich, klonen sie die immer gleichen
Phrasen: zehn Jahre ohne das Recht, Briefe zu schreiben oder zu empfangen
... zum Tod durch Erschießen verurteilt... fünfzehn fahre Zwangsarbeit in einem
strengen Umerziehungslager ... Kinder von Volksfeinden kommen ins Waisenhaus
... Und er hört sie auch. Nicht immer, nicht jeden Tag. Doch
wenn er überarbeitet ist, wenn es in den Fluren des Archivs ganz still ist,
hört er ein fernes Echo. Wimmerndes Flehen um Gnade, leise Geständnisse,
zögernder Verrat. All diese Emotionen rauben ihm die Kraft, als kümmere er sich
um Sterbenskranke. Nur dass es bei der Pflege Sterbenskranker irgendwann ein
Ende gibt. Die Akte, die er heute Morgen aus dem Regal gezogen hat, Fall N
1247, genauso aus wie die anderen - dick, mit gelben Seiten, mit einer
ordentlich gebundenen Schleife aus ausgefranstem Baumwollband. Der Titel in der
linken oberen Ecke klang nach Sensation und Abenteuer - einer Geschichte, nach
der sich Journalisten die Finger lecken würden. Taras jedoch hatte das
kaltgelassen. All diese Akten begannen wie Krimis, aber dann enthielten die
meisten doch nichts als gruslige Verhörprotokolle, und es ging um unschuldige
Menschen, die oft nur aufgrund des anonymen Briefs eines »wohlmeinenden
Bürgers« verhaftet worden waren. Fall N 1247 schien keine Ausnahme zu sein. Die
beiden ersten Dokumente mit dem verwischten Doppeladler-Stempel der russischen
Geheimpolizei waren mit weißem Wachsfaden an den dicken Karton geheftet. Taras
überprüfte die Daten: März 1749 ... Juli 1749 ... Die Worte, aufgereiht wie
seltsam geformte Perlen, in Unmengen von Briefen, gehörten längst nicht mehr
zum Sprachgebrauch. Taras überflog rasch den Inhalt. Der Aktenordner enthielt
Berichte über drei Jahrhunderte hinweg, alle durch den gleichen Familiennamen
verknüpft. Zweihundertfünfzig Jahre Überwachung, dachte er. Das musste ja ein
wichtiger Fall gewesen sein, wenn er all die Kleinarbeit wert gewesen war und
all den Papierkram !
Dann folgten die üblichen Berichte, die die Mitglieder
besagter Familie als Volksfeinde und englische Spione entlarvten, verurteilt
zu Zwangsarbeit wegen Vaterlandsverrats.
Dezember 1923: Verhaftung eines Volksverräters - des ukrainischen
Botschafters in Wien
November 1937: Bericht über Verhaftung und Verhör Anatolij
Polubotoks, Professor der Angewandten Mathematik an der Universität Kiew
Der letzte Bericht in der Akte war datiert von März 1962.
Taras griff schon nach dem Stempel Geheim, wie bei
allen noch nicht abgeschlossenen Fällen - als er mitten in der Bewegung
innehielt. Er betrachtete die Signatur unter dem Bericht - zu vertraut, um sie
zu übersehen. War das ... Konnte es wirklich sein ... Er rechnete rasch nach.
Ja. Sein Chef war damals etwa vierundzwanzig Jahre alt gewesen, also musste es
sich um einen seiner ersten Fälle handeln.
Taras schlug die Akte von neuem auf. Er bemerkte, dass der
Wachsfaden nur locker um die Dokumente lag. Hatte jemand ein paar Seiten
entnommen? Taras blätterte zurück zur
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