Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Shevchenko, A.K.

Shevchenko, A.K.

Titel: Shevchenko, A.K. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ein fatales Erbe
Vom Netzwerk:
durch
untertitelte amerikanische Filme, die er sich an zwei Abenden die Woche aus
einer Videothek leiht.
    Im Großen und Ganzen kommt Taras gut klar ... bis auf die
Erinnerungen. Die Erinnerungen sind das Schlimmste. Gegen die kommt er viel
schwerer an. Sie sind unsichtbar, überfallen ihn aus dem Hinterhalt, wenn er es
am wenigsten erwartet: treffen ihn mit einer Melodie, schweben mit einem Duft
auf ihn zu, streifen in einer Menschenmenge an ihm vorbei.
    Doch Taras hat eine Möglichkeit entdeckt, ihnen zu
widerstehen. Drei Abende die Woche, nach einer vierzigminütigen Fahrt im
knallvollen Bus, betritt er den Club, zieht die Boxhandschuhe über und
konzentriert sich auf seinen linken Haken, seinen rechten Aufwärtshaken. Hier
braucht er nur noch daran zu denken, woher der nächste Schlag kommt.
    Seine Existenz in dieser Stadt ist seine Vorbereitung auf
Aktion. Er hat es sich zur Gewohnheit gemacht, das Leben dieser Stadt zu beobachten,
ihre Bewegungsmechanismen und ihre Fehler, ihre Opfer. Zum Beispiel jetzt, in
diesem Moment, könnte er kurz trainieren. Die U-Bahn beschleunigt ihr Tempo.
Mit halbgeschlossenen Augen scannt Taras die Passagiere - das hat er sich in
der Akademie so angewöhnt. Ein Paar in der Ecke - er flüstert ihr etwas ins Ohr,
lehnt sich ein bisschen zu weit hinüber. Fettleibig, schütteres Haar,
widerlich. Nervös, mit blaugefrorenen Händen, zerknüllt das Mädchen die weiße
Mohairmütze auf ihrem Schoß. Sie lacht, wirft leicht den Kopf zurück. Ganz
klar, wo sie heute Abend landen wird.
    Der U-Bahn-Waggon holpert, und der Junge gegenüber
(schwarze Lederjacke, zu dünn für eine Februarnacht) rutscht vom Sitz. Er hievt
sich mit einem Ruck wieder hoch. Mit glasigem Blick starrt er durch Taras
hindurch in ein schwarzes Tunnelloch. Er schaukelt in synkopischem Rhythmus vor
und zurück. Noch nicht süchtig, urteilt Taras, steht am Anfang.
    Neben ihm vergräbt ein Mann mit Hirschlederhut den Kopf in
der Zeitung. Hut und Hirschledermantel sind teuer, aber altmodisch. Der Mann
stützt sich mit dem Ellbogen auf eine Lackledermappe mit abgestoßenen Kanten.
Ein leitender Ingenieur, vielleicht sogar ein Fabrikdirektor - irgendetwas
Militärisches, vermutet Taras. Der hatte früher einen schwarzen Wolga mit Chauffeur.
Jetzt, da die Aufträge zurückgegangen sind, nimmt er die Metro und verbirgt
verlegen sein Gesicht. Bei der Zeitung, die er angeblich liest, handelt es sich
um Argumenty i Fakty.
    Argumente und Fakten. Das ist
jetzt Taras' Job. Fakten studieren und Argumente liefern.
    Als der FSB vor sieben Jahren seine neue »Politik der
Transparenz« verkündete, empfahlen interne Memos, dass es im Sinne einer präventiven
Maßnahme nur vernünftig sei, die Akten, zu denen die Öffentlichkeit Zugang
habe, einer »sorgfältigen Überprüfung« zu unterziehen. Was, wenn ein
sensationsgeiler Journalist, ohne die Folgen zu bedenken, für eine Sekunde
skandalträchtigen Ruhms ein paar Fakten herausklaubte? Irgendjemandem fiel ein,
dass Leutnant Petrenko, der im Juni direkt von der Akademie zum Geheimdienst
gekommen war, einen Abschluss als Historiker hatte, und so wurde Taras ins
Archiv geschickt, um die Dossiers des NKWD zu durchsuchen, der sinistren
Vorläuferorganisation des KGB. Zeugin der von Stalins Paranoia beherrschten
Epoche, der Schauprozesse der Euphorie eines Landes, des nationalen Terrors.
    Von der Tragödie der Stalinherrschaft hatte er erst auf
der Universität erfahren. Im Geschichtsunterricht in der Schule war nie davon
gesprochen worden, aber dort hatte er sowieso nichts gelernt. Die Schule in
seinem abgelegenen Bergdorf hatte aus einem einzigen großen Raum bestanden, in
einer schäbigen, strohgedeckten chata, einem
alten ukrainischen Haus. Dort waren ein Dutzend Kinder aller Alterstufen von
einem alten Lehrer unterrichtet worden, der ihnen von allem ein bisschen was
beibrachte und sich mehr auf sein schwindendes Gedächtnis als auf die
zerfetzten Schulbücher verließ.
    Jeweils am ersten Schultag im September wurden die Schüler
vom brechreizerregenden Gestank der billigen schwarzen Farbe empfangen, mit
der man die Kritzeleien auf den Pulten frisch übermalt hatte. Die
weißgetünchten Wände der Dorfschule waren kahl, bis auf ein Lenin-Porträt über
der Tafel und zwei verblasste Botanikplakate, die an der Wand gegenüber dem
Fenster hingen und die blätternde Tünche verbargen. Taras hasste die Schule. Er
studierte jedes Detail der Botanikplakate, zählte die rostigen Reißzwecken,

Weitere Kostenlose Bücher