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Shevchenko, A.K.

Shevchenko, A.K.

Titel: Shevchenko, A.K. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ein fatales Erbe
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Einzimmerapartment aus - in Tschertanowo, einer
Schlafstadt aus lauter identischen Häuserblocks am Rande Moskaus, in der Nähe
der Ringstraße.
    Gut, er wirkt viel jünger, als er ist - noch spannt sich
über seinen Oberarmmuskeln der Stoff des T-Shirts, noch werfen ihm hübsche
Mädchen auf der Straße Blicke zu -, aber was könnte er einer Freundin bieten,
wenn er eine hätte? Etwa das Bettsofa mit den kaputten Federn?
    Einer richtigen Freundin natürlich. Lusja, die kleine
Verkäuferin vom Gemüsestand an der Ecke, zählt ja nicht. Erst hatten sie damals
über eine Ananas geplaudert, dann waren sie auf überteuerte Mandarinen gekommen
und schließlich auf andere, verbotene Früchte.
    Vier Jahre schneller Gelegenheitssex, angeheizt durch
billigen Wein. Wenn sie betrunken war, hatte sie ihn damals oft gefragt, wie er
sich eigentlich die Zukunft vorstelle und ob sie irgendwann zusammenziehen
würden. Gelegentlich denkt er seufzend zurück an ihre Brustwarzen, an ihren
schelmischen Blick, wenn sie ihm eine Tüte mit Äpfeln reichte und so tat, als
wäre er ein x-beliebiger Kunde ...
    Andererseits ist es eine ziemliche Erleichterung, abends
keinen Gedanken mehr daran verschwenden zu müssen, ob Lusjas Hände, je nach
Lieferplan, heute nach Bananen oder nach verfaultem Kohl riechen werden, wenn sie
ihn umarmt.
    Seit sie weg ist, bleibt Taras nur noch, auf seinem Weg
von der U-Bahn-Station zum Hochhaus die pletschewje - die
»Schultermädchen« - zu betrachten. Diese Teenager hängen an der Ringstraße
rum, ziehen ihre Synthetikjacken über die Miniröcke herunter und warten
darauf, dass irgendein Lastwagen anhält. Sie fahren von Stadt zu Stadt, in der
trügerischen Geborgenheit von Kama-Lkws, gegen eine schnelle Dienstleistung -
irgendwo am dunklen Straßenrand legen sie dem Trucker die mageren Beine über
die Schultern. Letztes Jahr hat Taras eine von ihnen abgeschleppt. Na ja,
fast. Selbst dieser Vorstoß war zum Scheitern verurteilt.
    Eins der Mädchen hatte ihm damals unter ihren Ponyfransen
hervor Blicke zugeworfen, als er vorüberging. Sie hatte die feuchten,
haselnussbraunen Augen eines kranken Hündchens. Er sprach nicht mit ihr -
nickte ihr nur zu: Komm mit! Und doch lächelte sie (schüchtern oder
triumphierend - schwer zu sagen im Dämmerlicht des frühen Winterabends) und
trottete hinter ihm her, den schmalen Pfad im Schnee entlang; sie zog die
Schultern hoch, verfolgte jede seiner Bewegungen, schniefte laut. Plötzlich
wurde ihm klar, dass sie vermutlich noch minderjährig war, egal was sie behauptete,
und dass sie sich, wenn er sie mit in seine Wohnung nahm, womöglich an die
Adresse erinnern und vielleicht sogar zurückkommen und ihn erpressen würde.
    »Toller Karriereschritt, Taras!«, gratulierte er sich
selbst. »Na los, setz für ein flüchtiges Verlangen deine Zukunft aufs Spiel!«
Also drehte er sich um und scheuchte sie mit einer Handbewegung weg. Sie blieb
stehen, starrte ihn unsicher an, trat von einem Fuß auf den anderen. Er
wiederholte die Geste. Erst jetzt kapierte sie, brach in eine Flut heiserer
Beschimpfungen aus und stampfte mit der abgewetzten Stiefelspitze in den
Schnee. Taras sah ihr nach, wie sie zur Ringstraße zurückschlurfte. Sie waren
sich ziemlich ähnlich, er und sie: die gleiche brennende Sehnsucht nach einem
anderen Leben, die gleiche Einsamkeit des Provinzlers in einer großen Stadt.
    Allerdings gab es einen entscheidenden Unterschied: Sie
hatte schon früh kapituliert, während er beschlossen hatte zu kämpfen, dank
seiner Ausbildung an der Akademie.
    Erkenne deinen Feind, lautete
ein fünf Lektionen umfassender Kurs an der Akademie, den er bis heute ziemlich
effektiv findet. Erster Schritt: Identifiziere deinen Feind. Werde
dir klar über sein Angriffsziel und seine Waffen, analysiere seine Taktik.
     
    Der erste Schritt war leicht. Der Feind: die
Megametropole. Das Ziel des Feindes: gleichgültiges Verschlingen von Opfern aus
der Provinz. Seine Waffen: Isolation, verhasster Job, alte Erinnerungen. Seine
Taktik: langsames Ersticken von Träumen und Ambitionen.
    Schritt zwei: Um den Feind zu bekämpfen, muss man sich auf
die Aufgabenstellung konzentrieren, nicht auf die Wut, den Groll, den man
empfindet. Der Schlüssel heißt Selbstdisziplin. Er führt
Krieg mit dieser Stadt, bewegt sich von einem Tag zum nächsten, von einer
Aufgabe zur nächsten, gepolstert durch ein Kissen aus Atemdampf, wenn er bei
Frost am Sonntagmorgen im Freischwimmbecken Luft holt, getröstet

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