Shining
Schwester Beatrice zu gefallen. Andererseits war er insgeheim davon überzeugt, dass er das Bild nicht erkannte, weil Gott erkannt hatte, dass er der größte Sünder der ganzen Klasse sei. »Siehst du es nicht, Jack?« fragte Schwester Beatrice ihn auf ihre freundliche, aber traurige Art. Ich sehe deine Titten, hatte er in wütender Verzweiflung gedacht. Er schüttelte den Kopf, aber dann heuchelte er Aufregung und rief: »Oh ja, jetzt erkenne ich es! Es ist Jesus!« Und die ganze Klasse hatte gelacht und applaudiert, und er empfand Triumph, Scham und Angst. Später, als alle anderen den Keller der Kirche schon verlassen hatten, war er noch geblieben und hatte sich das sinnlose schwarzweiße Durcheinander, das Schwester Beatrice auf der Staffelei zurückgelassen hatte, noch einmal angesehen. Er hasste es. Genau wie er, hatten auch alle anderen nur so getan, als hätten sie es gewusst. Es war alles ein großer Betrug. »So eine verdammte Scheiße«, hatte er geflüstert, und als er sich zum Gehen wandte, hatte er aus dem Augenwinkel Jesus gesehen mit seinem traurigen, klugen Gesicht. Mit klopfendem Herzen war Jack stehen geblieben. Alles hatte plötzlich seine Richtigkeit, und er hatte das Bild in angstvoller Bewunderung angestarrt und nicht glauben wollen, dass er es zuerst nicht erkannt hatte. Die Augen, die Schatten auf der sorgenumwölkten Stirn, die feingeschnittene Nase, die Lippen, die Mitleid ausdrückten. Und er schaute Jack Torrance an. Was ihm vorher als sinnloses Gekritzel erschien, wurde plötzlich als gelungene Schwarzweißradierung, die das Gesicht unseres Erlösers zeigte, erkennbar. Jacks ängstliche Verwunderung verwandelte sich in Entsetzen. Er hatte geflucht vor einem Bild des Herrn. Er würde verdammt werden. Er würde zu den Sündern in die Hölle fahren. Das Gesicht Christi war die ganze Zeit in dem Bild gewesen. Die ganze Zeit.
Jetzt, da er in der Sonne stand und seinen Sohn im Schatten des Hotels spielen sah, wusste er, dass es alles stimmte. Das Hotel verfolgte Danny, vielleicht sie alle, ganz gewiss aber Danny. Die Hecken hatten sich wirklich bewegt. In Zimmer 217 war wirklich eine tote Frau, eine Frau, die vielleicht nur ein Geist und meistens harmlos war, eine Frau aber, die jetzt eine akute Gefahr darstellte. Wie ein boshaftes Uhrwerk war sie aufgezogen und durch Dannys Phantasie in Bewegung gesetzt worden … und durch seine eigene. War es Watson gewesen, der ihm erzählt hatte, dass eines Tages auf der Roque-Anlage ein Mann tot umgefallen war? Oder war es Ullman gewesen? Das war unwichtig. Im dritten Stock hatte es einen Mord gegeben. Wie viele alte Streitigkeiten, Selbstmorde, Schlaganfälle? Wie viele Morde? Lauerte Grady mit seiner Axt irgendwo im Westflügel und wartete nur darauf, dass Danny ihn aufschreckte, um dann aus dem Balkenwerk zum Vorschein zu kommen?
Der blutunterlaufene Ring um Dannys Hals.
Die flimmernden, undeutlich zu erkennenden Flaschen in der verlassenen Lounge.
Das CB-Radio. Die Träume.
Die Sammelmappe im Keller.
(Medoc, bist du hier? Mich überkam wieder das Schlafwandeln, mein
Lieber …)
Plötzlich gab er sich einen Ruck und warf die Schneeschuhe wieder nach draußen. Er zitterte am ganzen Körper. Er schlug die Tür zu und hob die Kiste mit der Batterie auf. Sie glitt ihm aus den zitternden Fingern
(oh Gott, wenn sie jetzt zerbrochen ist)
und fiel mit einem dumpfen Laut auf die Seite. Er riss den Deckel auf und wuchtete die Batterie heraus, ohne sich um vielleicht auslaufende Säure zu kümmern. Aber die Batterie war nicht gesprungen. Sie war heil. Ein leiser Seufzer entfuhr seinen Lippen.
Vorsichtig trug er sie zum Skidoo und stellte sie auf das Halteblech vor dem Motor. Er fand einen verstellbaren Schlüssel im Regal und befestigte die Batteriekabel rasch und ohne Schwierigkeiten. Sie war geladen; er brauchte das Ladegerät nicht einzusetzen. Als er das positive Kabel anklemmte, hatte es geknistert und einen leichten Ozongeruch gegeben. Als er fertig war, trat er einen Schritt zurück und wischte sich an seiner verblichenen Drelljacke nervös die Hände. Es müsste funktionieren. Nichts sprach dagegen. Nichts, außer dass dies alles zum Overlook gehörte. Und das Overlook wollte sie nicht gehen lassen. Ganz und gar nicht. Das Overlook machte sich einen Höllenspaß. Es konnte einen kleinen Jungen terrorisieren und einen Mann und eine Frau gegeneinander aufhetzen, und wenn es seine Karten richtig ausspielte, würden sie bald wie unwirkliche
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