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Shiva Moon

Shiva Moon

Titel: Shiva Moon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helge Timmerberg
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vermisst. Leider hat er seine Stimme verloren. Enttäuschung ist an und für sich ein positives Wort, weil es ent-täuscht, also die Illusion nimmt, also Klarheit schafft, aber trotz dieser Wohltaten der Ent-täuschungbin ich nun doch ziemlich enttäuscht. Ich hatte ihn in mir rauschen hören, nachts, als ich in Scarlets Gästebett lag, und nur dieses Rauschen hat mich zu ihm zurückgebracht. Wie soll ich das erklären? Besoffen von Gin Tonic und ernüchtert von Gott, starrte ich (vorgestern, glaube ich) in eine Welt, die keinen Sinn mehr hatte, und immer wenn ich die Augen schloss, um das Elend nicht länger mit anzusehen, ja, da hörte ich plötzlich den Fluss. Ich hatte etwa zwei Wochen mit ihm im Himalaya verbracht, und jetzt hörte ich ihn mitten in Delhi, mitten in Scarlets Gästebett, mitten in mir. Als hätte er sich mit meinem Atem verbündet. Das Rauschen des Ganges hat mich zu ihm zurückgebracht. Aber kaum bin ich wieder da, rauscht er nicht mehr. Er singt auch nicht, er flüstert nicht einmal. Der Ganges fließt so träge an Varanasi vorbei, dass man Angst um ihn bekommen könnte. Die Geschwindigkeitsstufe darunter ist Stillstand und die darunter Gestank. Bin ich wieder mal reingefallen? Und welche Falle hat diese Reise als Nächstes parat?
    «Shiva Temple, Sir?», fragt Govinda.
    Und wer zur Hölle ist Govinda? Dreimal dürfen Sie raten. Govinda ist der Bruder eines Mannes, der zwanzigtausend Rupien im Monat scheffelt, weil er als Kind und auch als junger Erwachsener viel gebüffelt hat und Lehrer geworden ist. Govinda selbst hat als Kind und junger Erwachsener lieber Scheiß gebaut und ist deshalb Taxifahrer geworden, mit einem monatlichen Verdienst inklusive Trinkgelder von nur fünftausend Rupien. Natürlich könnte ich mir vorwerfen, dass neunzig Prozent aller Inder, die ich bisher auf dieser Reise näher kennen gelernt habe, Taxifahrer gewesensind, aber was macht das schon? Wer Land und Leute studieren will, ist mit ihnen bestens bedient. Sie fahren uns durch das Land. Und sie sind die Leute. Das Charakteristische an Govinda ist ein fehlendes Glied am Ringfinger und sein gutmütiges, rundes Gesicht. Außerdem weiß er, im Gegensatz zu mir, anscheinend, was gut für mich ist.
    «Shiva Temple, Sir?»
    Ich sollte an dieser Stelle an Scarlets Frage erinnern. «Wenn du an Hunger glaubst, warum glaubst du dann nicht auch ans Sattwerden?» Das war sehr schlau. Konfuzius begründete seine Philosophie meines Wissens auf der genauen Beobachtung der Naturgesetze, die er dann auf die Belange des Geistes übertrug. Was für die Natur stimmt, das stimmt auch für uns. Wenn der Hunger des Körpers gestillt werden kann und muss, dann gilt für den Hunger der Seele dasselbe. Sattsein ist ein ganzheitliches Phänomen. Und Nahrung ist ein anderes Wort für Kraft.
    Die Kraft springt mich wie ein Tier an, als ich den Shiva-Tempel in der Benares Hindu University betrete. Wie ein wildes Tier, mit funktionierendem Killerinstinkt. Der Hunger hat keine Chance mehr. Ich bin augenblicklich satt. Und komplett überrascht. Wie kann das gehen? Eben noch leer, jetzt voll. Gerade noch schwach, nun stark. Wie aus und an. Wie Dunkelheit und Licht. Im Bruchteil einer Sekunde ist meine neue Freiheit von allem, was mir heilig war (Glaube, Liebe, Hoffnung), wieder dahin. Und ich habe fast nichts dafür getan. Nur einen Schritt. Ähnlich wie beim Besuch einer Discothek. Vor der schallgedämpften Tür hören wir nichts, aber sobald wir drin sind, ballert unsder Beat blöd. Der Vergleich hinkt, hier gibt es keine schallgedämpften Türen. Auch keine normalen. Hier ist alles offen. Das Portal, die Seiteneingänge, die hohen Fenster, alles ist offen, nichts hält die Kraft, die drinnen wohnt, davon ab, nach draußen zu dringen. Und doch ist es so. Draußen ist nichts, und drinnen ist alles. Und ein Schritt macht den Unterschied.
    Deshalb nochmal die Frage: Wie geht das? Und was hat der Shiva-Tempel in der Benares Hindu University von Varanasi damit zu tun? Ist es die Kombination aus Architektur und Atmosphäre, aus Marmor und Meditation, oder herrscht hier eine andere Gravitation? Wurde der Tempel nach astrologischen Vorgaben gebaut? Treffen sich in ihm die Energiebahnen der Welten? Vielleicht ist auch ein Heiliger vor Ort. Ein Geist in der Kernschmelze des Erkennens. So was strahlt aus. Ein Blinder sitzt vor einer der Marmorsäulen und singt mit ungeheurer Emotionalität. Die Emotionen gelten der Transzendenz. Dazu legt sich das

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