Shiva Moon
Sonnenlicht, das durch die Fenster fällt, praktisch wie Meterware über den Marmor, und hinter den Fenstern ist das satte Grün der Tempelgärten. Würde ich mich anstrengen, könnte ich noch viele Gründe anführen, warum mich in diesem Shiva-Tempel die Kraft wie ein Tier anspringt. Nur einen nicht: Sauerstoffmangel. Trotzdem macht der Tempel mit mir dasselbe wie die Quelle des Ganges. Ich beginne, sobald ich ihn betreten habe, tief zu meditieren. Was so auch nicht ganz stimmt. Ich beginne nichts. Ich werde meditiert.
Aber zurück zur Action. Ich fühle mich also, als hätte man mir am Eingang mal schnell den fehlendenStein ins Zentrum meines Mosaiks gerückt, und will mich setzen, um das zu vertiefen. Dafür gibt es Marmorbänke und Marmornischen. Ich suche mir eine nach Gusto und vertiefe mich, und als ich wieder aufstehe, fällt mein Blick auf eine Inschrift an der Marmorwand. Überall sind Inschriften. Der Tempel ist mit ihnen tapeziert. Kernsätze aus den heiligen Schriften Indiens, hin und wieder auch illustriert. Die, auf die jetzt mein Blick fällt, sind von Swami Vivekananda. Der Mann ist mir bekannt. Er machte als erster indischer Guru Yoga und Meditation im Westen populär, und es gibt eine hübsche Geschichte, wie er das machte. Der Swami reiste mit einem Dampfschiff nach New York, wo er niemanden kannte. Und Geld hatte er auch nicht. Auf dem Deck des Dampfers kam er eines Nachts mit einem Amerikaner ins Gespräch. Das Gespräch währte bis zum Morgengrauen. Als die Sonne aufging, war der amerikanische Passagier über die Mission des Swami hinreichend informiert. Nur eines war ihm noch nicht ganz klar. «Wo werden Sie wohnen? Wer wird Sie ernähren? Wer wird die Säle für Ihre Vorträge mieten, die Touren organisieren? Kurz: Wer wird Ihnen helfen in den USA?» – «Sie», antwortete Swami Vivekananda, und genau so ist es gekommen. Entweder konnte der Swami in die Zukunft sehen, oder er konnte sie manipulieren. Und das hier sind seine Sätze in Marmor. Sie enthalten zwar auch das Wort «divine», göttlich, aber diesmal stört es mich nicht.
Each soul is potentially divine. The goal is to manifest this divinity within by controlling nature, externaland internal. Do this either by work or worship or psychic control or philosophy – and be free. This is the whole of religions. Doctrines, rituals, forms are but secondary details.
Swami Vivekananda
Möglicherweise lässt Sie das unbeeindruckt. Das ist normal. Jeder hat SEINE Sätze. Möglicherweise hätten sie mich einen Tag vorher oder nachher auch unbeeindruckt gelassen. Jeder Satz hat SEINE Zeit. Seinen großen Moment. Möglicherweise habe ich den Swami sogar falsch verstanden. Möglicherweise ist mein Englisch nicht perfekt. Aber all diese Möglichkeiten werden unwesentlich, wenn das Resultat eine Erleuchtung ist. Der Erleuchtung ist es egal, wie man zu ihr kommt.
Erleuchtet wird zunächst das Jahr 1968. Ich hatte, als es zu Ende ging, etwa hundertmal LSD genommen. Das war das eine Problem. Das andere: Ich hatte auf LSD Hermann Hesse gelesen. Das Werk hieß «Die Morgenlandfahrt». Nach Beendigung der Lektüre nahm ich den Daumen, um aus der Stadt zu kommen. Kein großes Ding damals. Das Mitnehmen von Anhaltern galt als Minimalkonsens aller revolutionären Kräfte, und nach drei Monaten war ich da. Indien. Das Land von Siddhartha, das Reich der Götter, des Friedens, der Liebe. Ich checkte in einem Ashram ein und lernte meditieren. Erklärtes Ziel: transzendieren. Nicht nur das Bewusstsein, auch die Hemisphäre. Nie wieder wollte ich zurück in den Westen. Nie wieder.
Mein Lieblingsplatz in dem Ashram war der Garten,in dessen Mitte ein großer Brunnen stand. Dessen Schale war wie die Blüte einer Lotosblume geformt, und darin saß ein Gott mit vier Gesichtern, für jede Himmelsrichtung eins. Es war also egal, wo ich mich befand, wir hatten immer Blickkontakt, und nach zwei Wochen sprach mich der Gott in dem Brunnen an. Ich will keine Märchen erzählen. Natürlich war es nicht der Viergesichtige, der mit mir sprach, denn er war aus Stein und hatte weder Seele noch Zunge und Verstand. Nein, ich hatte nur meine innere Stimme gehört. Aber so laut, dass ich glaubte, sie sei ein externes Phänomen.
Was ist die innere Stimme? Ich denke, sie ist der einzige kompetente Ratgeber, den wir haben. Wo spricht sie? In unserem Zentrum. Wie gelangt man da hin? Immer dieselben Fragen. Immer dieselben Antworten. Ich hatte sie zwar auch ab und an
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