Shiva Moon
auch etwas mehr Leben in der Bude, weil ein neuer Gast gekommen ist, ein attraktiver Turbanträger mittleren Alters, der sofort das Ruder übernimmt. Vor dem Kamin stehend, mit einemWhiskeyglas in der Hand, beginnt er lautstark eine politische Diskussion, das heißt, es ist eigentlich mehr eine Rede, weil keiner so richtig antwortet. Alle schauen ihn nur glücklich an. Endlich sind sie Teil eines politischen Salons und nicht mehr Besucher einer lahmen Party. Als der Typ nach etwa vierzig Minuten wieder verschwindet, nehme ich Scarlet zur Seite. «Sag mal, kann es sein, dass unsere Gastgeber diesen Vogel gemietet haben?» Das ist für Scarlet ein neuer Gedanke, aber wenn sie es sich recht überlegt, ja, das kann sein. Was für ein Land. Bei uns mietet man Stripteasetänzerinnen.
Ich werde immer gesprächiger. Jetzt mit dem Franzosen. Er ist der Schwiegersohn der Gastgeberin. Morgen will er nach Bombay. Und ich? Gute Frage. Weiß ich noch nicht. Eigentlich nach Varanasi, aber vielleicht auch nicht. Vielleicht auch nach Hause. Warum? Weil er ein Franzose ist, erkläre ich es ihm mit einem Bild aus dem Themenbereich Liebe. Oder, besser noch, ich erkläre es ihm nicht anhand des Bildes, ich frage ihn, was er darüber denkt. Das mache ich immer, wenn ich besoffen bin. Selbst Taxifahrer frage ich dann, wie es mit mir weitergehen soll. Also: Indien ist wie eine Geliebte für mich, die ich nicht mehr liebe. Und die Frage ist: Kriege ich das wieder hin mit der Liebe?
Der Mann sieht mich an, und ich erkenne Trauer in seinen Augen. «Musst du sie lieben?»
«Nicht unbedingt, aber es wäre netter.»
«Nein», sagt der Franzose. «Du kannst keine Frau lieben, die du nicht mehr liebst.»
«Aber warum denn? Die Inder praktizieren doch auch die Vernunftehe. Ganz Asien macht das. Sie lachenüber unsere romantische Liebe. Wenn Asiaten heiraten wollen, suchen sie nach einem Partner, mit dem sie ihr kleines Boot durch den Ozean des Lebens kriegen. Da schaut man auf andere Dinge als auf die, in die man sich verlieben kann. Die Liebe, sagen sie, kommt dann sowieso mit der Zeit. Wenn man gut zueinander ist.»
«Nein», sagt der Franzose. «Das ist ganz unmöglich.» Das trifft mich mehr, als ich vermutet hätte. Und natürlich hat er Recht. Scarlet kommt zu uns. Sie will wissen, worüber wir reden.
«Es geht darum, ob man jemanden, den man nicht mehr mag, doch nochmal irgendwie lieben kann. Er sagt, das sei fast unmöglich.»
«Nein», lacht der Franzose. «Ich habe nicht ‹fast› gesagt.»
Natürlich hilft mir Scarlet, wo sie nur kann. Auf dem Rückweg öffnet sie mir zuerst die Augen, was das blonde Gift angeht («Findest du nicht, dass es ein bisschen ordinär ist, wie bei ihr die Zigarette im Mundwinkel klebt?»), und zu meinem spirituellen Problem hat sie auch was parat.
«Du fragst dich, ob du noch an Gott glaubst?»
«Ja.»
«Fragst du dich auch, ob du noch an Hunger glaubst?»
«Wie meinst du das?»
«Na, glaubst du, dass es Hunger gibt? Das Gefühl des Hungers, den Zustand des Hungers?»
«Na klar.»
«Warum glaubst du dann nicht auch ans Sattwerden?»
10. Keine Götter, keine Träume, keine Märchen
Fliegen in Indien war mal ein trauriges Kapitel. Alle Inlandsverbindungen wurden nur von der staatlichen Indian Air geflogen. Niemand brauchte sich anzustrengen. Alternativen verbot das Gesetz. Das machte die Indian Air zu einer der sieben gefährlichsten Airlines der Welt, und in der Rangliste der Airlines mit den meisten Verspätungen rangierte sie wahrscheinlich sogar ganz oben. Das Bizarre an solchen verspäteten Abflügen lag darin, dass man sich nicht darüber ärgerte, sondern eigentlich immer froh war, dass man die technischen Probleme, die zu der Verzögerung führten, noch VOR dem Start bemerkt hatte. Aber das sind Abstürze von gestern, inzwischen herrscht auch am indischen Passagierflughimmel der freie Markt. Es gibt drei sehr gute Privatairlines: Air Sahara, Jet Airways und Kingfisher. Letztere gehört einem der neuen indischen Global Players, dessen Stammgeschäft das gleichnamige Bier ist. Kein schlechtes Bier. Keine schlechte Airline, aber Jet Airways ist noch besser, im vergangenen Jahr wurde sie zur «Best Airline of Asia» gekürt. Man kann beidesmiteinander verbinden. Mit Jet Airways fliegen und Kingfisher trinken. Ich studiere dazu das Bordmagazin. Sind die Flugroute und der Lauf des Ganges einigermaßen deckungsgleich? Aus der Höhe gesehen bin ich wieder hart am Ball.
Der arme Ganges.
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