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Shiva Moon

Shiva Moon

Titel: Shiva Moon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helge Timmerberg
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Unter uns wird er gnadenlos mit industriellen Abwässern voll geschissen. In den Bergen ist er so sauber, dass man aus ihm trinken kann. Zwischen dem Himalaya und Varanasi reiht sich Fabrik an Fabrik, und die stellen seine Heiligkeit auf die Probe. Ist er unvergiftbar? 1,2   Milliarden Inder glauben es. Nein, nicht ganz. Man muss die Moslems abziehen, trotzdem bleibt es eine beeindruckende Zahl. Achthundert Millionen Hindus können nicht irren. Jeder von ihnen will mindestens einmal in seinem Leben bei Varanasi in den Ganges. Und sei es nur, um dort zu sterben. Was heißt nur? Bei Varanasi hat der Fluss seine sündenreinigenden Kräfte dermaßen potenziert, dass er die Seelen der Verstorbenen direkt aus dem Kreislauf der Wiedergeburten katapultiert. Tag für Tag werden deshalb an achtzig Ghats, wie die heiligen Badestellen genannt werden, die Leichen des Subkontinents dem Fluss übergeben. Nicht nur als Asche, so komplett verbrennen sie nicht. Knochen, Schädel, verkohlte Fleischreste treiben im Fluss neben verwesendem Vieh und Fäkalien. Addiert man die organischen zu den industriellen Abfällen, kommen unterm Strich 1,5   Millionen Kolibakterien pro 100   ml Wasser dabei heraus. Nochmal: 1,5   Millionen. Wasser, in dem man baden will, sollte aber pro 100   ml nicht mehr als fünfhundert Bakterien enthalten. Der Unterschied ist beträchtlich, trotzdem strömen täglich achtzigtausend Pilgernach Varanasi, um in der Giftbrühe zu baden. Gehöre ich auch zu diesen armen Irren? Ich glaube, Sie kennen mich inzwischen ein bisschen.
    Direkt nach der Landung geschieht das erste Missgeschick. Mein Rucksack bleibt am Gepäckband hängen, und zwar so, dass er nicht mehr freizukriegen ist. Nicht von mir. Auch nicht von dem Flughafenmitarbeiter, der mir helfen will. Und der Nächste schafft’s auch nicht. Das Band steht still, aber wie es der Zufall will, ist mein Rucksack das letzte Gepäckstück gewesen. Niemand ist genervt. Nicht mal ich. Wer 1   :   0 führt, der stets verliert, denke ich. Ich liege 0   :   1 zurück. Ich bin auf der Gewinnerstraße. Komisch, was ich da denke. Eigentlich müsste das Ende des Glaubens doch auch das Ende des Aberglaubens sein. Ein Techniker kommt. Er macht dasselbe mit meinem Rucksack wie wir zuvor. Aber er kriegt ihn ruck, zuck frei. Hat das Band Angst vor ihm? Tun Techniker Maschinen weh?
    Was das «Hotel de Paris» angeht, bestätigt sich meine «0   :   1-Rückstand -aber-von-jetzt-an-nur-noch-Glück-Theorie» nicht unbedingt. Es ist der Tipp eines Freundes, der vor zehn Jahren mal da war. Er beschrieb das Hotel, von einer Französin in den dreißiger Jahren gebaut, als eine verstaubte Perle. So sieht es aus. Das Taxi rollt mit mir durch einen parkähnlichen Garten, und ein einsamer Security Guard in verschlissener Khakiuniform winkt mir zu, was mich nicht wundert, denn jeder Wachmann freut sich, wenn endlich mal einer kommt, den er beschützen kann. Gleich in der Lobby, die auch verlassen wirkt, wird offenbar, dass hier nach dem Ableben der Französin in den sechziger Jahren nicht mehr ernsthaft geputzt wurde. Dasselbe gilt fürdie Zimmer. Sehr groß, sehr atmosphärisch, und auf dem Teppichboden sollte man auf keinen Fall barfuß gehen. Aber ich will nicht immer nur meckern und außerdem noch weiter.
     
    Unter Hindus gilt als ausgemacht, dass Varanasi sechstausend Jahre alt ist. Nicht konfessionell gebundene Historiker sprechen von zweitausendfünfhundert bis dreitausend Jahren, aber immerhin. Varanasi könnte man wie Rom als Ewige Stadt bezeichnen. Entsprechend ewig dauert die Fahrt vom «Hotel de Paris», das am Stadtrand liegt, bis zum Assi Ghat im Zentrum. Zwar wurde hier mehrmals in der Geschichte durch Brandschatzung und Totalschleifung seitens feindlicher Mächte (vornehmlich Afghanen) Platz geschaffen, aber seit dem letzten Wiederaufbau der Stadt im Jahre 1738 ist auch das nicht mehr geschehen. Die Straßen sind eng, die Lasten sind schwer, Pfoten, Hufe, Füße, Räder suchen Löcher in dem Gewirr, in der Hoffnung, dass die Löcher in andere Löcher münden und die Summe der Löcher ihr Weg ist.
    Ghats sind die Stufen zum Fluss, zur großen Sündenwaschmaschine, die Luken, um im Bild zu bleiben. Für die Lebenden wie die Toten, und das Assi Ghat gehört zu den kleineren Orten dieser Art. Aber es hat die beste touristische Infrastruktur und ein Gartenrestaurant mit Blick auf den Fluss. Da ist er also wieder, der gute alte Ganges, irgendwie hatte ich ihn ja doch

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