Shiva Moon
vernommen, bevor ich lernte, wie man Gedanken zur Ruhe bringt, aber nie so deutlich und zwingend wie in den Tagen, als ich zu meditieren begann. Sie sagte nur einen Satz. Man kann ihn auch durch einen Punkt zu zwei Sätzen machen. Dann wird deutlicher, dass es weniger ein Rat als ein Befehl gewesen ist.
«Geh nach Hause. Und werde Journalist!»
Das verblüffte mich. a) hatte ich bis zu diesem Zeitpunkt noch nie ernsthaft über eine Berufswahl nachgedacht, und b) war es exakt das Gegenteil von meinem Plan, im Ashram zu bleiben. Trotzdem gehorchte ich. Ich trampte zurück und wurde Journalist. Und, was soll ich sagen, es war die richtige Entscheidung, es hatSpaß gemacht, es hat Geld gebracht, es hat meinem Leben Flügel verliehen. Trotzdem wollte ich immer und immer wieder nach Indien zurück. All die Jahre träumte ich davon, mit dem Spaßhaben und Geldmachen aufzuhören, sobald ich es mir erlauben kann. Glückliche Menschen haben absurde Träume.
Nun zum erleuchteten Moment.
Arbeit oder Anbetung oder Selbstkontrolle oder Philosophie sind die Wege zum Göttlichen in uns, hatte ich soeben an der Marmorwand des Shiva-Tempels gelesen, und Swami Vivekananda hat Wert auf das «oder» gelegt, denn sonst hätte er es flüssiger geschrieben. Vier Wege zum Göttlichen, und das «oder» macht klar, dass sie gleichwertig sind, keiner ist besser oder schlechter, und was mich hier so positiv aus der Fassung bringt: dass einer dieser vier ewigen Wege die Arbeit ist.
War ich blind?
Arbeit ist meine Meditation, Workaholismus meine Religion, Büros sind die Kathedralen, Laptops funktionieren als Wanderaltare. Meine Arbeit ist Schreiben. Wenn ich schreibe, geht’s mir gut. Wenn ich nicht schreibe, fangen die Probleme an. Aber was für welche. Da kommen nicht nur Dämon Hinz und Dämon Kunz vorbei, da zieht auch mal schnell die ganze Belegschaft einer Nervenheilanstalt vorübergehend bei mir ein. Mit Schreiben beruhige ich die Dämonen. Lulle sie ein. Verpass ihnen Knebel. Stecke sie in Zwangsjacken. Gott ist die Idee, Arbeit ist das Gebet, auf meiner letzten Reise sagt mir Indien also haargenau dasselbe wie auf meiner ersten. Das sind volle fünfunddreißig Jahre Lernprozess. Endlich habe ich es kapiert. Ich brauche nie mehr einen Gedanken an Indien zu verschwenden,solange noch ein Blatt Papier in der Nähe ist. Und vor allem dieser Gedanke macht sich breit, als ich noch ein Weilchen vor dem Shiva-Tempel der Benares Hindu University stehe und Cappuccino trinke.
Die Benares Hindu University ist keine Lehranstalt mit ein, zwei, drei großen Häusern und ’nem Tempel in der Mitte. Sie ist die weitläufigste Universität Indiens. Fünfzehntausend Studenten, achtzehn Kilometer Straße, und jede Fakultät verfügt über ein eigenes Gebäude, und jedes dieser Gebäude erinnert an den «Palast der Winde» und hat einen weitläufigen Garten. Die Summe der Paläste und Gärten ergibt einen zur Stadt gewordenen Park und ist der Traum von einem Indien, das nicht überbevölkert ist und keine Armut kennt. Nur Wissenschaft und gehobene Mittelklasse. Wenn du für ein Jahr planst, pflanze Reis. Wenn du für Jahrzehnte planst, pflanze Bäume. Wenn du für Jahrhunderte planst, bilde Menschen aus. Die Elite des Subkontinents studiert hier nach einem Lehrplan, der so selbstbewusst ist wie das ganze Land. Astrologie und Sanskrit stehen gleichwertig neben Englisch und Atomphysik, und das Zentrum oder das Herz oder die Nabe des Rads ist der Shiva-Tempel mit dem kleinen Marktplatz davor. Große Bäume, kleine Läden, entspannte Atmosphäre und der beste Cappuccino der Stadt. Ich trinke ihn im Stehen. Und starre auf den Mond. Er macht die Sache rund. Vollmond über dem Shiva-Tempel von Varanasi und die Erkenntnis, dass ich nie mehr nach Indien reisen muss, weil ich Indien sowieso nur zwischen den Zeilen finde, wo sonst? Es fühlt sich an, als hätte ich die Beute im Sack, es fühlt sich an, als wäre der Job gemacht, es fühlt sich an, als könnte ich morgen zurück nach Hause fliegen.
Ein euphorischer Moment.
Erst als ich mein Hotelzimmer betrete, komme ich wieder runter. Beim Einchecken am Nachmittag habe ich es ja etwas unheimlich gefunden. Jetzt weiß ich, warum. Es ist schon belegt. Eine Armee nachtaktiver Riesenameisen marschiert in Kolonnen aus Löchern in der Wand heraus, um alles, was auf dem Teppichboden lebt, zu massakrieren. Ich schnappe meinen Rucksack und eile zur Rezeption. Ich bekomme ein anderes Zimmer. Das beste des
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