Shiva Moon
dass fast alle Indienreisenden Kalkutta an das Ende ihrer Reise setzen, sie sind dann gegenüber Bettlern schon ein bisschen abgehärtet. Mir jedenfalls geht es so. Ich habe mittlerweile einen Energieschild gegen das Phänomen. Und manchmal ein schlechtes Gewissen. Dann schreite ich zur guten Tat.
Beim letzten Mal in Kalkutta bettelte mich ein kleiner Junge an. Vielleicht neun, vielleicht zehn Jahre alt. Ich sagte, pass auf, ich schenk dir nichts. Du musst etwas dafür tun. Zeig mir das Haus von Mutter Teresa. Er zeigte es mir. Dabei stellte sich rasch heraus, dass er intelligent war, Englisch sprach und schnell dazulernte. Ich machte ihn zu meinem Guide. Zunächst erwies sich das als eine gute Idee. Der Kleine kannte sich in den Straßen aus wie eine Maus. Natürlich lud ich ihn auch zum Essen ein. Und sprach mit ihm über sein Leben. Über seine Zukunft. Über seine Möglichkeiten. Erinnern Sie sich an den zweiten Teil von Spielbergs «Indiana Jones»-Trilogie? Er spielt in Indien, im «Tempel des Todes». Indy hatte auch einen kleinen Freund in diesem Film, einen Jungen, so alt wie mein Guide. So in etwa war ich drauf. Schenke einem Hungrigen keinen Fisch, sondern lehre ihn fischen, sagt ein chinesisches Sprichwort. Oder ein indisches? Ich half also einem Bettlerjungen aus Kalkutta dabei, sich eine Zukunft im Tourismusgewerbe vorzustellen, und nach drei Tagen begann er, mich «Uncle» zu nennen und dabei komisch zu gucken. Dann bekam ich mit, dass ich in der Straße als Kinderficker galt. Ich war unheimlich sauer damals.
Meine gute Tat heute sieht so aus: Vor dem Coffeeshop steht eine Rikscha. Keine Motor- oder Fahrradrikscha, sondern eine, die zu Fuß gezogen wird. Laufrikschas gibt es nur noch in Kalkutta. Den anderen indischen Großstädten sind sie zu peinlich oder zu langsam geworden, aber die Kommunisten, die seit dreißig Jahren die Kommunalpolitik hier in Kalkutta dominieren, sehen das pragmatisch. Jeder, der noch laufen kann, soll sein Glück versuchen. Das kleine Männchen, das vor seiner Rikscha steht, hat einen langen Spitzbart und lustige Augen. Er fixiert mich bereits seit geraumer Zeit. Er zeigt auf seine Rikscha. Er klopft an seine Beine. Alles bestens. Alles Muskeln. Ich will zum Haus von Mutter Teresa. Ich weiß, dass die Tour eigentlich zu weit für eine Laufrikscha ist, aber ich weiß nicht, wie viel zu weit. Ich hab’s vergessen. Ich bin seinerzeit immer nur mit dem Taxi hingefahren.
«Mother, no far, Sir», sagt euphorisiert der lustige Ziegenbart und bittet mich, auf der Rikscha Platz zu nehmen. Sobald man sitzt, stellt man fest, wie hoch das ist. Nicht so hoch wie auf einem Elefanten, Kamel oder Pferd, aber höher als auf einem Fahrrad. Die ganze Straße sieht mich. Der Mann läuft los. Der alte Mann, sollte ich besser sagen. Ich kann nichts dagegen machen. Ich fühle sofort ein koloniales Unbehagen. Purer Blödsinn, ich weiß, der Alte dankt gerade Allah für das überraschende Sonntagsgeschenk. Er ist Moslem, und er zieht mich durch Moslemgassen, in denen Köpfe geschlachteter Hammel zu beiden Seiten grüßen und Hühner, im Dutzend zu Sträußen gebunden, den letzten Tag ihres Lebens genießen. Er zieht mich aber auch an heiligen Kühen vorbei, diedamit verglichen eine fabelhafte Existenz haben, an Gebetshäusern, Ganesha-Schreinen und den tausendundeinen Erscheinungsformen des Kleingewerbes, der Handwerkskunst, der allgemeinen Händlerei. In diesen Gassen ist die Laufrikscha noch sinnvoll, obwohl ich bequem zu Fuß neben ihr hergehen könnte, es sind allerdings auch andere zu sehen, die sich ziehen lassen, gern zu zweit, Inder wie Touristen. Hier ist das normal, aber als wir aus dem Viertel der kleinen Gassen herauskommen, fädelt sich Kollege Ziegenbart nach rechts in den Verkehr einer der größeren Straßen der Megametropole ein.
Und gibt richtig Gas.
Ich weiß inzwischen auch seinen Namen. «Jaba», rufe ich, «how far, mother?» Wer immer dasselbe fragt, bekommt nicht immer dieselben Antworten. Aber in meinem Fall schon. Okay, denke ich, gleich geht’s wieder irgendwo rein, und dann sind wir da. Das Blöde an dieser Art Strategie ist, dass die Auskunft ständig stimmen kann. Oder auch nicht. Egal, wie lange man schon fährt. Was heißt fährt? Rollt. Im Schritttempo. Busse, Lastwagen, Autos, MOTO R-Rikschas und Fahrräder überholen uns. Täusche ich mich, oder sorge ich hier für Heiterkeit? Alle lachen mich aus. Um es kurz zu machen: Jaba zieht mich erst einige Kilometer
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