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Shiva Moon

Shiva Moon

Titel: Shiva Moon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helge Timmerberg
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aus den Socken, denn das Gegenteil von alldem stimmt. Fünf Rupien sind zehn Cent, aber sie sagt «Thank you» in einem Tonfall, als hätte ich ihr das Hundertfache gegeben. Und lächelt dazu. Dankbar und glücklich und strahlend. Und noch etwas: In diesem Moment erkenne ich nicht nur an ihren Augen, dass sie erst zweiundzwanzig ist, sondern ihr ganzes Gesicht ist plötzlich zweiundzwanzig, und es ist wunderschön. Dann ist sie weg. Einfach verschwunden. Und mir, ich verstehe es selber nicht, bricht das Herz.
    Ich suche die junge Bettlerin noch etwa eine halbe Stunde, laufe die Straße auf und ab. Ich will mich entschuldigen. Ich will es wieder gutmachen. Nicht nur mein Verhalten ihr gegenüber. Ich denke jetzt an all die Bettler, denen ich nichts gab außer bösen Gedanken. Als hätte ich eine Ohrfeige von Gott bekommen. Ich will ihr fünfzig Rupien geben. Oder hundert. Ich will sie wirklich glücklich machen. Ich will noch einmal dieses Lächeln sehen. Ich will heute Nacht mit der Gewissheit einschlafen, dass mir vergeben worden ist. Daraus wird leider nichts.
     
    Es scheint sich einiges zu tun in Kalkutta. Der Zahn bricht ab, das Herz geht auf, ich meine sogar Grillen zu hören, als ich wieder im «Fairlawn» bin. Charlotte sitzt mit einem Inder am Tisch. Er erinnert mich an Raja, obwohl er kleiner ist und sein Gesicht keine Ähnlichkeit mit dem des Travel Agent hat. Es ist seine Art. Die Art, wie er redet und denkt. Und wie er sich kleidet.Und wie er trinkt. Bisher kannte ich nur zwei Typen von Indern: die alten und die neuen. Die alten glauben an Mantras, die neuen an Millionen. Die alten tragen Hüfttücher oder diese langen weiten weißen Sachen (mit oder ohne Turban), die neuen bevorzugen Diesel-Jeans oder Maßanzüge (aber nie ohne Rolex). Die alten sind lustig. Die neuen lächerlich. In Kalkutta lerne ich einen dritten Typus kennen. Weder alt noch neu, sondern zeitgemäß, modern, global normal. Hätte ich Raja oder den, der jetzt bei Charlotte sitzt, in New York, Marseille, Tokio oder der Enterprise gesehen, hätte ich ihn fragen müssen, aus welchem Land er kommt. Ich hätte ihn nicht sofort als Inder erkannt. Auch nicht an seinem Englisch. Raja und er haben keinen Akzent. Und nicht diese singende Art zu reden, die den Rhythmus der englischen Sprache sofort aus den Angeln hebt. Sie persiflieren kein Oxford-Englisch wie die Beamten in New Delhi, und sie wackeln auch nicht mit dem Kopf, wenn sie ja, nein oder vielleicht sagen. Ich weiß, es ist eigentlich kein Wackeln, sondern eine liegende 8, die ihr Kopf kreisend beschreibt, und die liegende 8 ist immerhin das Symbol für Unendlichkeit. Aber es sieht wie Wackeln aus. Nein, der Inder an Charlottes Tisch wackelt nicht. Auch inhaltlich nicht.
    Er ist so um die dreißig und Unternehmer. Er stellt Maschinenteile her. Als ich ihn frage, ob er exportiert, lacht er mich aus. Der indische Markt genügt ihm, sagt er. Dann sagt er eine Weile nichts mehr, wahrscheinlich hält er mich für bekloppt. Ein Binnenmarkt mit 1,2   Milliarden Menschen braucht uns nicht. Ich entschuldige mich, und er taut wieder auf. Er will wissen, wie mir Kalkutta gefällt. Besser als alle anderen Städte.Warum? Kann ich noch nicht sagen. Eigentlich bin ich ganz gut darin, den Geist einer Stadt zu erfassen. Aber hier muss ich passen. Irgendetwas Schönes liegt in der Luft, etwas Spezielles, ich weiß nur noch nicht, was. «Vielleicht sind es die Bengalen», sagt Charlotte. «Sie sind entspannter als die anderen Inder.» Er nimmt darauf einen Schluck Bier und sieht mich lächelnd an.
    «Vielleicht ist es die Menschlichkeit», sagt er.
    Nimmt er mich hoch, oder meint er das ernst? Kalkutta gilt als die Stadt mit den unmenschlichsten Lebensbedingungen der Welt. Aber er hat Recht. Gerade das verführt zur Menschlichkeit. Ein gutes Beispiel dafür setzt sich soeben zu uns. Eine Deutsche. Um die dreißig. Sie lebt seit fünf Jahren in Kalkutta. Die ersten drei hat sie bei Mutter Teresa gearbeitet, seit zwei Jahren tut sie selbständig Gutes. Sie ist Tagesmutter von zwei behinderten Kindern. Wie sie sich finanziert? Sie hat eine Eigentumswohnung in München. Ihr T-Shirt gefällt mir. «I’m not deaf. I ignore you» steht drauf. «Ich bin nicht taub. Ich ignoriere dich.» Sie ist keine Heilige gewöhnlichen Zuschnitts. Sie liebt die Brüche. Man kann helfen und trotzdem genervt sein. Das schließt einander nicht aus. Die Nächste, die an unserem Tisch Platz nimmt, ist eine Spanierin. Auch sie

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