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Shiva Moon

Shiva Moon

Titel: Shiva Moon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helge Timmerberg
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geradeaus, an einer Megakreuzung biegt er nach rechts ab, um etwa eine Viertelstunde später nach links abzubiegen, und diese Straße ist jetzt sechsspurig. Natürlich weiß ich, dass ich niemand werde erklären können, warum ich nicht endlich einfach «Stopp!» rufe und in ein Taxi umsteige. Ich kann es mir ja selbst nicht erklären. Ich habe nur Anhaltspunkte. Der erste ist bekannt.Hoffen auf die nächste Ecke. Der zweite ist eine Charakterschwäche. Ich kann niemandem wehtun. Ich habe Jaba bereits ins Herz geschlossen. Und er freut sich so. Der dritte Grund, den Wahnsinn nicht zu beenden, hat mit dem Smog zu tun. Verglichen mit Kalkutta sind New Delhi, Bangkok und Istanbul Luftkurorte. Und ich krieg die volle Ladung. Die Wirkung erinnert mich an Opium, was die den Willen zersetzenden Eigenschaften der Droge angeht, leider fehlen die schönen. Ich werde nur schwächer und schwächer, geistig wie körperlich, und es kann natürlich auch sein, dass ich den Smog überbewerte und es wieder mal nur einer dieser depressiven Anfälle ist, die mich auf der Reise wie schwarze Vögel begleiten und Schatten auf meine Seele werfen, sobald sie über mir sind. Ich weiß es nicht, wahrscheinlich kommt da eines zum anderen. Fakt ist: Ich habe einfach keine Kraft mehr, das Ruder herumzureißen.
    So viel zu meinem Willen. Jetzt zu meinem Arsch. Laufrikschas haben keine Stoßdämpfer, und die Straßen von Kalkutta sind Schlaglochfallen. Jedes Mal knallt es mir ins Rückgrat, wie mit einem Hammer geschlagen. Und anscheinend immer auf denselben Nerv, kurz über dem Steißbein. Es pocht und pocht. Das beunruhigt mich. Ich hatte mal vor Jahren einen Bandscheibenvorfall und will ihn NIE WIEDER haben. Die gute Nachricht: Das Rückgrat hält. Die schlechte: Bei einem besonders fiesen Schlagloch krachen meine Kiefer dermaßen aufeinander, dass ein Zahn abbricht.
    Ich kann es nicht glauben. Es tut auch nicht weh, aber die Lücke, rechts unten, ist da. Die Lücke ist nicht total. Teile der Ruine haben das Schlagloch überstanden.Ich reagiere mit verhaltenem Entsetzen. Ein privater Albtraum wird wahr. Ich habe vor dem Zahnarzt mehr Angst als vor der Hölle. Nur vor einem Zahnarzt nicht. Er praktiziert in Hamburg. Er hat mir noch nie wehgetan. Er ist die absolute Lichtgestalt, nie würde ich zu einem anderen gehen. Und NIE zu einem in Indien. Nie, nie, niemals! Den Rest der Fahrt warte ich darauf, dass der Schmerz einsetzt. Macht er aber nicht, und nach einer Stunde sind wir da. Jaba kann mich nicht direkt bis vor das Haus der Toten ziehen. Hundert Meter vorher ist eine Sperre für jede Art von Fahrzeug, selbst für dieses. Gut ein Dutzend Laufrikschas warten davor, und Jaba reiht sich ein. Als ich von der Rikscha steige, bemerke ich, dass ich Probleme mit dem Gehen habe. Als hätte ich Holzbeine. Außerdem ist mir übel. Eigentlich sollte ich mich sofort hinlegen. Aber wohin? Neben die, die schon auf der Straße liegen? Ich will gar nicht genauer hinsehen. Ich schaff das jetzt nicht. Ich habe gerade absolut keine seelischen Immunkräfte mehr. Das ist Hardcore-Indien. Das ist Kalighat. Das Viertel, in dem sich nicht nur Mutter Teresas Haus befindet, sondern auch und vor allem der wichtigste Kali-Tempel der Stadt. Der älteste. Der grausigste. Früher wurden hier der Schwarzen Göttin Menschenopfer dargebracht. Inzwischen schneidet man nur noch Ziegen rituell die Kehle durch, um Kali um Gnade anzuflehen. Wer hierher kommt, hat echte Probleme. Und so sehen die meisten aus, die vor dem Tempel liegen oder stehen.
    Endlich bei Mother. Hier steht niemand mehr. Hier sterben sie nur noch. Als ich das Haus der Toten betrete, sehe ich so ziemlich genau dasselbe wie bei meinemersten Besuch vor sieben Jahren. Alles Elend der Welt auf fünfzig blauen Bahren. Oder auf siebzig oder hundert, wie gesagt, ich will nicht genau hinschauen, also auch nicht zählen. Ich will nur Andi treffen. Den heiligen Bayern. Als ich ihn kennen lernte, streichelte er bereits seit mehr als zwanzig Jahren in diesem Haus, ehrenamtlich und unentgeltlich, die Armen in den ewigen Schlaf. «Der Tod ist ein sanfter Bruder», sagte er mir damals. Und natürlich ist er nicht da. Er ist in Deutschland. Er kommt in zwei Wochen wieder.
    Zurück.
    Vorhin habe ich mich noch nicht geschämt. Jetzt schäme ich mich. Warum nehme ich nicht wenigstens für die Rückfahrt ein Taxi? Ich erklär’s mal so: Ich habe es versucht. Ich bot Jaba sogar an, ihm die Leerfahrt zu bezahlen. Mein guter Wille

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