Shiva Moon
gekommen waren, um für ein paar Wochen Aidskranke zu streicheln und Eiterbeulen zu öffnen. Ich habe für ein paar Tage dasselbe gemacht. Es war eine extrem starke Erfahrung, und ich hoffe, für die Armen, an die man mich heranließ, war es das auch. Einen Toten habe ich angefasst, eingewickelt, ins Auto gehoben und zum Friedhof gebracht. Einen Toten. Später sagte mir der Baba, der mir in Nepal das Mantra gegen die Angst gegeben hat, dass es gut sei, Tote zu sehen. Er nehme jede Gelegenheit dazu wahr. Der Anblick einer Leiche schenke ihm jedes Mal wieder die Gewissheit, dass der Mensch mit dem Körper nichts zu tun hat.
Kalkutta betet Kali an, die Göttin des Todes. Korrekt übersetzt heißt sie «Die Schwarze». Sie hat vier Arme, vier Reißzähne und trägt eine Halskette aus Totenköpfen. Sie wohnt auf den Einäscherungsplätzen und sendet Pocken und Cholera aus, wenn die Opfergaben ausbleiben. Ab und an tritt Kali auch als Pockengöttin auf. Dann heißt sie Sitala, «Die Kalte». Woher ich das weiß? Ich hab’s in einem Buch gelesen, und Raja hat es gerade auch erzählt. Raja weiß alles. Und Raja meint, Kalkutta habe ein Imageproblem. DieWelt glaube, Kalkutta sei die schlimmste Stadt in Indien. In Wirklichkeit sei sie die interessanteste. «Wie lange willst du bleiben?», fragt er mich. Ich weiß es nicht. Ich weiß es wirklich nicht. Zum ersten Mal auf dieser Reise habe ich das Gefühl von open end.
Sonntag. Kinotag. Raja trägt Freizeitkleidung. Ein indisches Langhemd, Baumwollhose, Sandalen. Stellen Sie sich Al Pacino darin vor, und Sie bekommen ’ne Ahnung, wie das aussieht. Zwei fünfzigjährige Männer sitzen mit Popcorntüten zwischen einem Haufen Kinder und einem Haufen Mütter im Vormittagsprogramm, um zunächst die Abenteuer zu sehen, die Hanuman als Baby erlebt. Er wirkt eigentlich wie ein Menschenbaby, nur sein Mund und die Backen erinnern an einen Affen. Und das Schwänzchen. Klein Hanuman schläft in einem mit blauer Seide bezogenen Bett. Er wird wach, er reckt sich, er schlägt die Augen auf. Was er durch das Fenster sieht, entzückt ihn. Eine dicke Mango hängt in einem Baum. Die Fähigkeit des Fliegens ist ihm angeboren, und er hat denselben Stil wie Superman. Er flattert nicht mit den Armen durch die Luft, er streckt einfach nur seine Hand dem Ziel entgegen, und ab geht’s. Im Baum wartet eine Enttäuschung auf Hanumännchen. Die Mango ist weg. Aber nein, da ist sie ja. Nachdem er ein paar Blätter zur Seite geschoben hat, kann er die Mango wieder sehen. Sie ist noch dicker geworden. Sie hängt nur ein bisschen weiter oben. Und zack, fliegt Hanuman zur Sonne.
Eigentlich eine schöne Geschichte. Aber kein schöner Film. Bollywood kann das nicht. Seine erste Zeichentrick-Großproduktion sieht aus wie Billigdekofür einen Kindergeburtstag. In der Pause geben wir auf. Im Vorraum des Kinos studiere ich nochmal das Filmplakat und finde, wie schon beim Studium der Credits zu Beginn des Films, auch hier nicht den Namen, den ich suche. Nicht seinen alten, nicht seinen neuen, nicht seinen Spitznamen. Sie haben Blue Eye Baba verarscht. Sie haben seine Idee gestohlen. Und sie haben es noch dazu schlecht gemacht. Na ja, was soll’s. Er ist vom Judentum zum Shivaismus konvertiert und ein Asket geworden. Alle Gebräuche, Techniken und Selbstgeißelungen der Asketen zielen auf die Eliminierung (oder Überwindung) des Ego. Mit dem geklauten Hanuman hat Blue Eye Baba eine gute Gelegenheit, sich darin weiter zu üben. Und halt! Vielleicht haben sie ihm die Idee nicht geklaut, sondern für zehn- oder zwanzigtausend Dollar abgekauft. Das ist wahrscheinlicher. Aber nicht weniger schmerzhaft. Blue Eye Baba kann seit Wochen überall in Indien die haushohen Filmplakate von «Hanuman» sehen und sich den Arsch abärgern. Seine Vision ist wahr geworden. Ohne ihn. Die große Traumerfüllungsmaschine arbeitet nicht immer punktgenau.
Am Nachmittag mache ich den entscheidenden Fehler. Es beginnt mit einer guten Tat. Ich bin wieder allein und auf der Straße, in der das «Fairlawn» ist. Sie heißt Sudder Street. Die Meile der Traveller. Hier sind die billigen Hotels, die Reisebüros, die Telefonläden, die Coffeeshops. Ich sitze in einem und sehe nach draußen. Junge Menschen aus wahrscheinlich aller Herren Länder und indische Bettler sind unterwegs. Es ist wie seinerzeit in Rishikesh. Mit einem Unterschied. DieBettler von Kalkutta sind anhänglicher. Sie folgen dir wie Hunde. Vielleicht liegt es daran,
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