Shiva Moon
entstehen, wenn in diesem Rhythmus der Kopf auf die Knie knallt, sind auch nicht ohne.
Die Romantik, die naturgemäß im Vollmondumkreisen liegt, wird durch solche Szenarien ein wenig getrübt. Ist es der letzte Vollmond meines Lebens? Ist es Shiva Moon? Das ist die eine Frage. Die andere: Ist Gott ein Sadist? Ist das seine Belohnung für meine erwachsene Entscheidung, auf Nummer Sicher zu gehen? Und was heißt eigentlich «Nummer Sicher» beim Thema Tod? Auch ’ne gute Frage. Außerdem wird zunehmend klarer, was man sich in so einem Moment von Herzen wünscht. SOS heißt nicht «save our so and so (Geld)» oder «so and so (Macht)» oder «so and so (Ruhm)» oder «so and so (Beziehung)». Nichtmal «so and so (Leben)». Nein. SOS heißt SAVE OUR SOULS.
Und wer rettet Seelen? Diese Frage ist der zweite Rückfall heute, denke ich, und dann bekommt der Pilot die Räder doch noch raus und setzt sofort zum Landeanflug an. Dem Gott der Zerstörung ist das allerdings egal. Shiva kann warten.
11. Die Ehre der Bettler II
Egal, wie eine Reise verläuft – wenn sie dir einen Freund schenkt, ist sie ein Erfolg. Zuerst fällt mir sein Bart auf. Er ist fast weiß, wie meiner. Ich schätze, er ist auch so alt wie ich. Aber er sieht besser aus in seinem schwarzen Anzug und weißen Hemd. Sein Gesicht ist markant und wirkt entspannt, während er mit einer blonden Frau spricht, die ebenfalls in meinem Alter ist. Sie sitzen am Nebentisch. Sonst ist niemand im Gartenrestaurant des «Fairlawn Hotel». Es ist zu früh. Es ist Mittag. Es ist heiß. Zum ersten Mal fühlt sich Indien wie Indien an.
Am Nachbartisch wird freundschaftlich gestritten. Der Mann schreibt Zahlen auf einen Zettel, die Frau bittet um seinen Kugelschreiber und schreibt Zahlen daneben. Sie sprechen Englisch miteinander, aber wegen meiner tauben Ohren verstehe ich nur Fetzen. Beide gefallen mir immer besser. Er scheint ein guter Erzähler zu sein, jedenfalls agiert er so, und sie hat Humor und einen Stil, den man nicht vorm Spiegel üben kann. Eine schöne Frau, die mit dem Älterwerdenkeine Probleme hat, ist eine angenehme Gesprächspartnerin. Als sie mal kurz zur Toilette verschwindet, spreche ich den Inder an.
«Entschuldigen Sie, sind Sie ein Travel Agent?»
«Sie haben zweihundert Prozent Recht!»
Wenig später sitzt er an meinem Tisch, sie auch. Sie heißt Charlotte, ist Engländerin, wie ich vermutet habe, lebt aber in Paris und organisiert Indienreisen. Er heißt Raja und ist ihr Tourmanager vor Ort. «Sie haben Glück», sagt Charlotte, «er ist der beste Führer, den man in Kalkutta finden kann.» Raja lächelt, will aber das «Glück» so nicht stehen lassen. Für ihn ist das Schicksal. Und von langer Hand geplant.
«Was kann ich für Sie tun?», fragt er.
«Ich will zur Mündung des Ganges», sage ich.
«No problem», sagt er.
Der Mann hat Recht. Das muss Schicksal sein, so flott, wie das klappt. Der Ganges mündet etwa hundertzwanzig Kilometer südöstlich von Kalkutta in das Bengalische Meer. Das macht er zwar auch noch an vielen anderen Stellen, weil sein Delta gigantisch ist, aber der Strand, um den es mir geht, wird in Indien von alters her als wahres Pendant zur Quelle gesehen. Er heißt Ganga Sagar. «Was gibt’s da zu sehen?», fragt Charlotte. «Eigentlich nichts», sagt Raja. Wieder ein Pluspunkt für ihn. Er will den Job, er braucht das Geld, aber lügen will er dafür nicht. «Es ist ein heiliger Ort», fährt Raja fort. «Einmal im Jahr gibt’s dort ein großes Fest. Dann kommen zwei Millionen. Aber jetzt fließt da einfach nur der Ganges ins Meer.»
Wie kommen wir hin? Mit einem Taxi. Wir fahren sechs, sieben Stunden, nehmen die Fähre über denGanges, und dann braucht es nochmal ’ne Stunde mit einem anderen Taxi. Dann sind wir da. Wenn ich will, kann ich dort übernachten. Es gibt ein Hotel. Raja würde es nicht empfehlen. Raja empfiehlt, sehr früh aufzubrechen und in der Nacht zurückzukehren.
Die gute Laune wächst. Ein Profi sitzt an meinem Tisch. Kommt er mit? Ja. Na, dann ist ja alles klar. Kann er mir auch in Kalkutta ein Hotel besorgen? Hier im «Fairlawn» ist nichts frei. Zack, das Handy raus, und zack den Ansprechpartner angeschrien. «Ja, ich weiß, es ist Hochsaison. Jaaaa, ich weiß, alles ist ausgebucht. Aber es ist ein guter Freund von mir. Mach was möglich, Mann!» Und dabei grinst er mich an. Mir ist klar, dass es eine Show ist, wahrscheinlich ist das Hotel halb leer, aber solange er die Show so gut
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