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Sibirische Erziehung

Sibirische Erziehung

Titel: Sibirische Erziehung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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seiner Frau eine Tischlerei. Mel hat ihn ein paarmal besucht und allen Bemühungen Katers widerstanden, ihn davon zu überzeugen, dass er die jüngere Schwester seiner Frau heiraten müsse.
    Grab wurde beim Überfall auf einen Geldtransporter in Moskau verhaftet und zu sechzehn Jahren Haft verurteilt. Im Knast tötete er zwei Menschen, dafür bekam er lebenslänglich und wurde in das Sondergefängnis von Ust-Ilimsk verlegt, wo er noch heute einsitzt. Wegen der strengen Sicherheitsbestimmungen ist es unmöglich, Kontakt mit ihm aufzunehmen.
    Dschigit und Teufel überfielen zusammen eine Reihe von Banken, bis ihnen das Raubdezernat auf die Schliche kam, sie eine Zeitlang überwachen ließ und ihnen eine Falle stellte. Auf den Tipp eines in Diensten der Polizei stehenden Informanten hin raubten Dschigit und Teufel eine bestimmte Bank aus: Am selben Abend wurden sie in ihrem Hotelzimmer im Inturist in Twer von Polizisten erschossen, die das geraubte Geld an sich nahmen. Mel fuhr allein hin, um ihre Leichen nach Hause zu holen, und begrub sie auf dem alten Friedhof von Bender: Keiner von uns Freunden war bei ihrer Beerdigung dabei, nur Mel und ein paar Angehörige.
    Mel lebt noch immer in Transnistrien im Haus seiner Eltern, manchmal telefonieren wir. Er geht keinen kriminellen Aktivitäten mehr nach, weil er allein nicht zurechtkommt und niemanden hat, dem er sich anschließen kann. Eine Weile war er Leibwächter eines angesehen Kriminellen neuester Prägung, aber dann hatte er genug davon. Er nahm an einem Kurs teil und versuchte, Kinder in Aikido zu unterrichten, aber das ging nicht gut, weil er immer betrunken zum Training erschien. Jetzt macht er nichts, spielt die ganze Zeit Playstation, geht mit irgendwelchen Mädchen aus, hilft manchmal jemandem dabei, Schulden einzutreiben.
    Ksjuscha hat sich nicht wieder erholt. Seit dem Tag der Schändung hat sie mit niemandem mehr gesprochen: Sie schwieg, hielt den Blick gesenkt, ging fast nie aus dem Haus. Ab und zu konnte ich sie überreden, und wir machten eine Bootsfahrt auf dem Fluss, aber es war, als ob man einen Sack mit sich herumschleppt. Früher hatte sie Bootfahren geliebt: Die ganze Zeit war sie in Bewegung gewesen, war hierhin und dorthin gelaufen, hatte sich in den Bug gelegt und die Hände ins Wasser getaucht, hatte sich im Fischernetz verfangen, mit den Fischen gespielt, die wir gerade gefangen hatten, mit ihnen gesprochen und ihnen Namen gegeben. Nach der Gewalttat blieb sie regungslos, wie ausgelöscht: Höchstens streckte sie einmal den Finger aus, um das Wasser zu berühren. Dann ließ sie ihn dort und starrte die ganze Zeit auf ihre Hand im Wasser, bis ich sie schließlich auf den Armen ans Ufer zurücktrug.
    Eine Weile dachte ich, dass sie sich allmählich erholen würde, stattdessen wurde es immer schlimmer, bis sie schließlich nicht mehr aß. Tante Anfisa weinte nur noch, sie brachte sie in Krankenhäuser, zu Spezialisten, aber alle sagten das Gleiche: Ihr Verhalten rühre von ihrer frühenpsychischen Störung her, man könne nichts tun. Wenn es ganz schlimm war, spritzte Tante Anfisa ihr Vitamine und gab ihr eine Infusion, um sie am Leben zu halten.
    An dem Tag, als ich Transnistrien verließ, saß Ksjuscha auf der Bank vor ihrem Haus. In den Händen hielt sie ihr Spielzeug, eine Wollblume, wie man sie in Sibirien als Schmuck auf Pullover näht.

    Sechs Jahre nach der traurigen Geschichte rief eines Nachts Mel an: Ksjuscha war gestorben. »Sie hat sich schon lange überhaupt nicht mehr bewegt«, sagte er, »sie hat sich ganz allmählich sterben lassen.« Nach ihrem Tod zog Tante Anfisa in das Haus eines Nachbarn, der jemanden brauchte, der seiner Frau mit den Kindern half.

    Ich verließ mein Land, sammelte Erfahrungen, erlebte viele Dinge, versuchte, aus meinem Leben zu machen, was ich für richtig hielt. Aber noch immer bin ich unsicher, was diese Welt eigentlich antreibt. Vor allem bin ich, je länger ich unterwegs bin, desto mehr davon überzeugt, dass Gerechtigkeit ein falsches Konzept ist, zumindest die Gerechtigkeit der Menschen.

    Zwei Wochen nachdem wir der Gerechtigkeit auf unsere Art Genüge getan hatten, kam ein Unbekannter zu uns nach Hause und sagte, er wäre ein Freund von Bauch. Bauch sei irgendwohin gegangen und werde nicht mehr in unsere Gegend zurückkehren, aber er habe ihn gebeten, mir etwas zukommen zu lassen. Er gab mir ein Paket, ich nahm es an, ohne es zu öffnen, bat ihn der Höflichkeit halber herein und stellte ihn

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