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Sich lieben

Sich lieben

Titel: Sich lieben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Philippe Toussaint
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gekommen war und die Bestellung aufgenommen hatte, zugleich höflich, wortkarg und gleichgültig, mit dem Zeigefinger auf die appetitanregendsten Ideogramme tippte. Er hatte eine winzige lauwarme Serviette in zerknautschtem Plastik vor uns auf den Tisch gelegt und jedem von uns, bevor er wieder ging, aus einer Karaffe ein Glas Wasser eingegossen. Marie, die ihre dunkle Brille abgenommen und auf den Tisch gelegt hatte, schaute mich an, die Augen gerötet vom Schlafmangel, bleich und müde, wie durch die Nacht geschwächte erloschene Sterne, sie lächelte mich freundlich an, offenbar glücklicher im Rauch und Dunst dieser miesen Kneipe als in allem Goldflitter und Luxus der Paläste dieser Welt, deren nutzloser Pomp nichts weiter war als die fahle Redundanz ihrer eigenen Pracht.
    Im hinteren Teil des Restaurants mir gegenüber sitzend, aß Marie ihre Suppe, auf westliche Art und nicht wie die Japaner, die die Schüssel in die Hand nehmen und die Nudeln schubweise mit den Stäbchen heben, um sie dann mit einem überstürzten Mundaufreißen schmatzend zu verschlingen. Nein, sie machte sich eher daran, die Udon zu angeln, was beim Zuschauen etwas Pein (oder auch Vergnügen, je nachdem) bereitete, wie sie da mit einem Stäbchen in jeder Hand träge in ihrer Suppe rumrührte gleich einem todmüden, legasthenischen und beidhändigen Dirigenten. Entmutigt gab sie die Partitur in der Mitte des Essens schließlich auf und schob die Schüssel auf dem Tisch von sich weg. Ich glaub, du hast meine Zigaretten, sagte sie, sie sind in meinem Mantel, und ohne auf Antwort zu warten, beugte sie sich über den Tisch zu mir, dabei meinen Körper mit ihren Armen umschlingend, kramte in den Taschen ihres eigenen Mantels, den ich noch immer anhatte, und fischte dann diverse Gegenstände heraus, die sie einen nach dem anderen vor uns hinlegte, einen großen gefalteten weißen Umschlag, der wohl das Fax enthielt, zu kleinen Bällchen zerknüllte Papiertaschentücher, noch feucht von ihren Tränen, einen Lippenstift in seinem vergoldeten Zylinder, zwei oder drei eingerollte Zehntausend-Yen-Scheine und ein nicht mehr ganz heiles Päckchen Camel, dem sie eine Zigarette entnahm, verbogen, schwankend, zur Hälfte abgebrochen, mit ihrer Concorde-Nase. Ist das das Fax? fragte ich und wies mit dem Blick auf den gefalteten großen Umschlag, den sie auf den Tisch gelegt hatte. Darf ich? Sie nickte und zündete sich die Zigarette an. Ich öffnete nachdenklich den Umschlag, ließ die zwei Fax-Seiten durch die Finger gleiten, bemerkte dabei sofort den Briefkopf des Modehauses Allons-y Allons-o und dessen stilisiertes Logo, der Schattenriß eines weglaufenden Paares. Ich nahm die Seiten aus dem Umschlag und überflog sie, Zahlen, die neuesten Umsatzergebnisse, eine letzte aktualisierte Fassung ihres Programms in Tokio, Daten der Ausstellung und der Modenschau, alles ganz alltäglich, das Fax war neunzehn Uhr zwanzig in Paris abgeschickt worden, ein normaler Zeitpunkt für das Abschicken eines Faxes (auch wenn es für uns, die wir es bekommen hatten, ein verheerender Zeitpunkt gewesen war).
    Marie, mir gegenüber, die vor Müdigkeit fast umfiel, hatte sich am glimmenden Stummel der vorhergehenden eine neue Zigarette angezündet, spielte mit der Sojaflasche zwischen ihren Fingern und teilte mir dabei ihre Sorgen wegen der Ausstellung zeitgenössischer Kunst mit, die sie nächstes Wochenende in Shinagawa eröffnen sollte. Als wir heute morgen in Tokio gelandet waren, hatte uns aufgrund eines bedauerlichen Durcheinanders, das entstanden war, weil Marie mehrfach den Flug in allerletzter Minute umgebucht hatte, keiner am Flughafen empfangen. So standen wir in der riesigen Halle der Gepäckausgabe von Narita allein da, mit unseren hundertvierzig Kilo, verteilt auf diverse Kabinen- und Leichtmetallkoffer, Fotozylinder und Hutschachteln, die auf dem Gepäcklaufband ihre Runden zogen, bis wir sie uns schnappten und auf drei oder vier Karren stapelten, dabei unablässig nach möglichen Helfern Ausschau haltend, die allerdings nie eintrafen. Schließlich mußten wir das Hotel aus eigener Kraft erreichen, in zwei verschiedenen Taxen, jeder saß in einem, Sinnbild unserer Ankunft in Japan, die beiden Wagen folgten einander im Schneckentempo in der bleichen trüben Sonne über den morgendlichen Staus auf den städtischen Hochstraßen der Bucht von Tokio. Im Hotel angekommen, hatte Marie, erschöpft und außer sich, ein Bündel Faxe und E-Mails in der Hand, die diversen

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