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Sich lieben

Sich lieben

Titel: Sich lieben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Philippe Toussaint
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Verantwortlichen ihrer Reise ans Telefon geholt, jeder hatte sich in Entschuldigungen überschlagen, aber die Verantwortung für das Mißverständnis jeweils an den nächsten weitergegeben, tatsächlich lag die Organisation der Reise auf japanischer Seite in drei Händen, Allons-y Allons-o und Contemporary Art Space für die Ausstellung und Spiral für die Modenschau (nicht gerechnet eine junge Angestellte der französischen Botschaft, die ebenfalls ihr Gran Schönheit zur groben Nachlässigkeit des Triumvirats beisteuern wollte). Schließlich hatte Marie sich brüsk verabschiedet und verkündet, daß sie jetzt schlafen gehen werde und nicht vor morgen früh gestört zu werden wünsche (aber morgen früh, das war jetzt, das war genau jetzt, mein Liebling).
    Und trotz meiner ungeheuren Müdigkeit ließ ich die Hoffnung in mir keimen, daß der Tag an diesem Morgen in Tokio nicht anbrechen, daß er nie mehr anbrechen und daß die Zeit genau in diesem Augenblick da stehenbleiben würde, in dieser Gaststube von Shinjuku, in der wir uns wohlfühlten, warm eingehüllt im illusorischen Schutz der Nacht, denn ich wußte, daß der anbrechende Tag den Beweis erbringen würde, daß die Zeit verging, unabwendbar und zerstörerisch, und auch über unsere Liebe hinweggegangen war. Nicht mehr lange und der Tag würde anbrechen, und als ich mich zur Straße hinwandte, wurde mir klar, daß es schneite, kaum wahrnehmbare Schneeflocken schwebten seitlich an der Scheibe vorüber und verschwanden in der Nacht, vom Wind davongetragen. Von der Stelle im Restaurant, wo wir saßen, sah man im Holzrahmen des Fensters nur ein kleines Stück Straße, ausschnitthaft, der Blick traf auf ein Gebäude im Dämmerlicht, mit rätselhaften Elektroleitungen und einer an der Fassade nach oben verlaufenden Lichterkolonne, bestehend aus sieben oder acht erhellten Schaukästen übereinander, die das Vorhandensein von Bars auf jedem Stockwerk des Gebäudes anzeigten. Ich betrachtete, wie der Schnee schweigend auf die Straße fiel, leicht und ungreifbar, sich auf die Neonlampen und außen an die Papierlampions setzte, auf die Autodächer, die Glasösen, an denen die Drähte der Telegrafenmasten befestigt waren. Dieser Schnee schien mir ein Abbild für den Lauf der Zeit zu sein – wenn er den Schein einer Straßenlaterne durchquerte, wirbelten die Flocken einen Moment lang im Licht wie eine Wolke aus Puderzucker, verweht von einem unsichtbaren, göttlichen Wind – und da, in der riesigen Ohnmacht, die mich befiel, das Vergehen der Zeit nicht verhindern zu können, überkam mich die Ahnung, daß mit dem Ende der Nacht unsere Liebe enden würde.
    Als wir aus dem Lokal traten, waren die Bürgersteige dunkel und glänzend, überzogen mit verharschtem und matschigem Schnee. Die Schaumstoffsandalen, die ich an den Füßen trug, boten kaum Schutz vor der Nässe, und wenn ich eine Straße überquerte, spürte ich nicht selten kleine eisige Spritzer aus Schneematsch an Knöchel oder bloßem Fuß. Marie in ihrem Seidenkleid, Schultern und Arme nackt, ging vor mir in eine kleine düstere Straße. Ihr schien es nicht sonderlich kalt zu sein, aber ich wollte doch lieber rasch zu ihr eilen und ihr den Mantel zurückgeben, ich zog das Kleidungsstück aus und legte es ihr behutsam über die Schultern, um sie so gut wie möglich zu bedecken. Es hatte kurz aufgehört zu schneien, dann wieder von neuem eingesetzt, zunächst fielen ein paar einzelne Flocken, zögerlich gleichsam, ein schlichter unangenehmer eisiger Niesel, dann gingen aufs neue regelrechte Schneefälle nieder, die in wenigen Augenblicken die Bürgersteige mit einem feinen Film aus Kristallpuder bedeckten. Wir hatten uns unter das Holzvordach eines Handwerkerladens geflüchtet und schauten zu, wie der Schnee in dicken Flocken vor uns in der Nacht niederfiel. Bisweilen, dem Schauer trotzend, wagte ich mich bis zur Straßenmitte und hob den Kopf, blieb dort reglos stehen inmitten des stummen Vorhangs aus Schneeflocken, die träge auf die kleine Straße fielen, und suchte lange den Himmel ab, der sich von der Dunkelheit der Nacht abzusetzen und in ein Tagesgrau zu verwandeln begann, dem dicke Schneewolken da und dort einen gelblichen Widerschein verliehen. Ich war derart erschöpft, daß ich weder Kälte noch Müdigkeit mehr spürte. Ich lief ein paar Schritte im Schneematsch bis zur nächsten Kreuzung, das Gesicht schneebedeckt und die Füße in den leichten Sandalen vor Kälte rot angelaufen, und machte vor einem

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