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Sich lieben

Sich lieben

Titel: Sich lieben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Philippe Toussaint
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klobigen Getränkeautomaten halt, der sich im Halbdämmer vor mir aufbaute. Ich prüfte eine Weile zerstreut das Angebot, kalte und warme Getränke, verschiedene Sorten Kaffee und Tee, und nahm dann ein paar Münzen aus der Tasche, fragte Marie, ob sie etwas trinken wolle. Ja, gern, sagte sie. Marie war im Schutz des Vordachs geblieben, und ich betrachtete sie von ferne, sehr schön war sie in ihrem sternenbedruckten nachtblauen Seidenkleid in dieser verschneiten Nacht, das Gesicht getaucht in den fahlgelben Lichtschein einer ganz nahen Laterne. Sie stand da, die Augen im Vagen, unter dem Vorbau dieses verlassenen Ladens aus Holz, dessen Fensterläden geschlossen waren, und schaute traurig vor sich hin, die Haare naß und das Gesicht über und über mit Resten geschmolzenen Schnees. Ich ließ die Münzen in den Schlitz des Automaten gleiten und ging vorsichtig auf dem Bürgersteig mit zwei Bechern brühwarmem Cappuccino zu ihr zurück.
    Es war kurz nach fünf Uhr morgens, wir tranken unter dem Holzvordach eines Handwerkerladens unsere Cappuccinos und betrachteten dabei den auf die Straße fallenden Schnee. Trotz der starken Kälte fühlte ich mich seltsam gut, und Marie, die ihren Cappuccino in kleinen vorsichtigen Schlucken trank, um sich nicht die Lippen zu verbrennen, hob die Augen zu mir auf und lächelte mir zu. Ich antwortete auf ihr Lächeln und näherte behutsam meinen Becher dem ihren, um sie zum Anstoßen zu animieren, und nach einer ersten Überraschung – sie war einen Augenblick verdutzt, wie vor einer unerklärlichen Geste, einer Unschicklichkeit, einem unerwarteten Angebot an Sanftheit und Grazie – schaute sie mir ernst ins Gesicht, musterte mich mit einem intensiven Blick, bevor sie den Kopf auf meine Schulter sinken ließ und mit viel Weiblichkeit und Hingabe mit mir anstieß, wobei sie meinen Becher ganz sachte und fein, dankbar antippte, gravitätischer, als es sein mußte, zärtlich, voller Liebe.
    Wir hatten uns wieder auf den Weg gemacht, marschierten munter drauflos, ohne uns sonderlich um den Schnee zu kümmern, der sich weiter still auf unsere Schultern und Arme legte. Wir versuchten, zum Hotel zurückzukommen, aber überquerten Kreuzung um Kreuzung, ohne den Weg zu finden. So drangen wir auf düsteren kleinen Straßen immer weiter ins Unbekannte vor, als wir auf der anderen Straßenseite den erleuchteten Glaskasten eines kleinen Supermarkts sahen, der rund um die Uhr geöffnet hatte, mit dem blauweißen Schild von Lawson, das in der Dunkelheit strahlte. Wir gingen hinüber, um uns einen Augenblick drinnen unterzustellen, und wechselten dabei übergangslos vom bläulichen Zwielicht der Nacht zur zeitlos-brutalen Helligkeit einer weißen Neonbeleuchtung. Ich warf einen zerstreuten Blick auf die zwei einzigen Kunden, die sich im Laden befanden, ein junger Mann mit orangefarbenem Rollpulli und Rasta-Mütze, der vor dem Zeitungsstand in einem Magazin blätterte, und ein altersloser Angestellter mit nassen Schuhen und feuchter Stirn, der skeptisch die fast leeren Regale der Abteilung für Tiefkühlkost betrachtete, dann hin und wieder eine in Cellophan geschweißte Schale mit schwarzen Algenfäden oder in Scheiben geschnittenen Pilzen herausnahm, das Plastikschälchen seinen Augen näherte, seine Brille nach oben schob, um etwas auf dem Etikett zu lesen, das Verpackungsdatum oder die Herkunft des Produkts, bevor er die Schale wieder dorthin legte, woher er sie genommen hatte. Marie war am Stand für Süßwaren stehengeblieben und betrachtete die Kuchenpakete mit einer gewissen Apathie, ging dann übergangslos zu einem anderen Regal, blieb eine Weile vor dem mit den Fertigsuppen stehen, Beuteln mit Nudeln in bunter Aufmachung. Ihren nassen Mantel hielt sie über dem Arm, und nachdem sie zum Schutz gegen das allzu grelle Licht des Ladens ihre Sonnenbrille wieder aufgesetzt hatte, wandelte sie gähnend zwischen den Regalreihen umher, unter den gleichgültigen Blicken der Kassiererinnen, die mit trübsinniger Miene das lässige Dahinschreiten ihrer prächtig herausgeputzen, bestirnten nachtblauen Gestalt in den menschenleeren Gängen dieses Supermarkts verfolgten.
    Noch war kein Schimmer des Morgengrauens zu sehen, als wir den Laden verließen, das Viertel wachte zwar auf, aber doch ganz gemächlich, in fast unmerklichen Pinselstrichen, eine Birne, die da und dort hinter den Holzrollos eines Souterrains anging, ein älterer Mann in traditionellen Getas, der an einer Türschwelle auftauchte und die

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