Sich vom Schmerz befreien
zu folgen und seine Beine leicht zu bewegen, bemerkte ich, wie sich in meiner oberen Brust, an
den Schlüsselbeinen, ein leichtes Spannungsgefühl aufbaute, welches mit einer inneren Unruhe einherging. Ich wartete - wie lange, weià ich nicht. Da war dann plötzlich das Gefühl: »Wir müssen heute endlich weiterkommen, ich muss ihm helfen.« Hatte ich es mit meinem eigenen Leistungsanspruch zu tun bzw. lieà ich mich von dem des Patienten anstecken? Eine Zeit lang war ich abgelenkt, mit meinem Spüren ganz bei mir, konnte mich dann aber wieder entspannen und davon distanzieren, sodass sich das Ganze nicht auf die Kommunikation mit Herrn M.s Organismus auswirkte.
Wäre mir dies nicht gelungen, hätte ich mit einer anderen Technik oder an einer anderen Stelle des Körpers weitermachen oder die Sitzung beenden müssen. Weder Herr M. noch ich hatten zu jenem Zeitpunkt das Bedürfnis zu reden. Es gab nichts zu sagen. Ich spürte und bewegte, er war ganz bei sich, als er bemerkte, dass sich sein rechtes Bein nicht bewegen lassen möchte. Vorbei war es mit seiner Gelassenheit und Entspannung. Sein linkes Sprunggelenk meldete sich schmerzhaft. Ich beobachtete bei ihm unrhythmische Atembewegungen der Bauchdecke, legte seine Beine sanft ab, setzte mich neben ihn, fragte ihn ruhig, was er gerade erlebe, legte dabei meine Hand auf seinen Bauch und lieà sie seinen Atembewegungen folgen. Die Atmung beruhigte sich, er seufzte und im nächsten Moment stiegen ihm Tränen in die Augen.
Dies war der Zeitpunkt, an dem er erstmals Bilder aus der Kindheit vor Augen hatte, als er sich am Sprunggelenk verletzte. Sein Körper erinnerte sich aber nicht nur durch die Schmerzen - auch sein Vater
war innerlich anwesend. Zunächst fühlte sich Herr M. etwas hilflos, wurde aber dann von ihm getröstet. Ich glaube, wir redeten noch über eine halbe Stunde und er erzählte mir Geschichten aus seiner Kindheit, die ihm plötzlich einfielen. Und es waren schöne Erinnerungen.
Kommunikative Schmerztherapie basiert auf dem Verständnis, dass Schmerz aktives Verhalten ist. Sie bewegt sich fortwährend zwischen Körper und Psyche hin und her, weil sich stets auf beiden Ebenen etwas verändert. Und deshalb verlangt dies von beiden - vom Arzt/Therapeuten und vom Patienten -, dass sie sich persönlich darauf einlassen. Es geht um mehr als »Reparatur«, Beseitigung und Betäubung. Auch wenn Herr M. immer wieder mal zu einem Schmerzmittel greift - Medikamente wurden mit der Zeit mehr und mehr zur unterstützenden Ausnahme. Als Betroffener muss und will er sich mit seinem Spannungsverhalten auseinandersetzen, um es ändern zu können - ein Verhalten, von dem er zu Beginn noch nicht einmal etwas ahnte. Dafür braucht es Neugierde und vor allem die Bereitschaft, sich selbst zu begegnen sowie Verantwortung zu übernehmen. Jeder ist »Experte« für sein Verhalten »Schmerz« und kann es mit medizinischer und therapeutischer Hilfe verändern lernen.
Vielleicht haben Sie Lust darauf bekommen, diese Methode an sich selbst zu erfahren? Auf den Gesamtverlauf solch einer Therapie, ihre mögliche Dauer und neue Erkenntnisse gehe ich am Schluss des Kapitels (S. 188 ff.) noch einmal ein.
Schmerz in Bewegung
Kommunikative Schmerztherapie erfolgt unter einer völlig anderen Option als gemeinhin gewohnt: Ihr Ziel ist nicht, einen Schmerz als objektive Tatsache möglichst schnell und ohne groÃen Aufwand zu beseitigen bzw. sein Leben darauf einzustellen. Wird Schmerz als aktives Verhalten gesehen, muss ein Organismus die Fähigkeit zurückgewinnen, sein Spannungsverhalten zu verändern und ins Gleichgewicht zu finden. Er muss darin unterstützt werden, den Schmerz wieder für seine eigentliche Aufgabe zu verwenden - nämlich Muskelspannung effektiv zu regulieren. Als Augenblicksentscheidung des Gehirns ist Schmerz ein Prozess, dessen Erklärung sich nicht aus objektiven Daten und Diagnosen ergibt und dessen Verlauf auch nach einem medizinischen oder therapeutischen Eingriff nicht vorhergesagt werden kann. Die Entscheidung fällt aufgrund der bisherigen Belastungs- und Spannungserlebnisse im Leben des Betroffenen, also seiner individuellen »Wege durch den Schnee«, die er angelegt hat (siehe S. 33 f.).
Wie in Kapitel 3 charakterisiert, ist aus der Perspektive des Spannungsmodells ein Mensch mit einem Schmerzproblem in eine »Teufelsspirale«
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