Sichelmond
Pflegeeltern stehen mir bei. Einst war es ein Kapitän, dann Bauersleute … Bernhard gehörte auch dazu, Michael mit seiner Frau …«
»Na, wunderbar«, lachte Jachael. »Weiter!«
Rouven war selbst überrascht, wie leicht sich die Erinnerung plötzlich einstellte. Doch er wusste, dass alles, was er jetzt von sich gab, der Wahrheit entsprach. Dies war kein falsches Spiel Jachaels. Es war ihm ernst: Er wollte Rouven als Gegner zurückhaben und half ihm nun dabei, sich an alles zu erinnern. Das Bild des alten Mannes in der Tafel erschien vor Rouven. Dieses Menschen, der in seinem verworrenen Spanisch mit ihm gesprochen hatte. »Wenn ich mit den Menschen rede, dann erinnern sie sich an meine Stimme«, erklärte Rouven seinem Gegenüber. Auch wenn er wusste, dass Jachael sich all dessen bewusst war. »Ich spreche unmittelbar in die Seelen der Menschen hinein. Und dabei ist es gleich, in welcher Sprache diese Menschen sprechen. Sie verstehen mich. Sofort. Sie lauschen nicht mit ihren Ohren, sie hören mit ihrer Seele auf das, was ich ihnen zu sagen habe.«
»Na, siehst du«, rief Jachael. »Klappt doch. Weißt du eigentlich, was man mit deinen Fähigkeiten alles bewirken könnte? Du hast die Macht, die Menschen allesamt für dich einzunehmen. Sie würden alles für dich tun. Alles! Aber du? Du denkst nur an das Gute in der Welt und an deine Seelenschützer.«
»Ohne sie wäre ich nichts«, gab Rouven zu bedenken.
»Glaub ich dir. Sie sind ja nicht gerade untätig und faul in den Jahren, in denen du sie hier, auf diesem hässlichen Planeten, allein lässt, nicht wahr?«
»Sie sind die guten Geister der Erde«, erklärte Rouven. »Sie haben ein Auge auf die Menschen. Unerkannt leben sie unter den Leuten und achten auf sie. Sie sind der Grund, warum Kriege manchmal plötzlich enden. Oder gar nicht erst entstehen. Sie sorgen dafür, dass Retter da sind, kaum dass es ein Unglück gibt. Sie wachen über allem und über jeden, so gut sie es können.«
»Ah«, unterbrach ihn Jachael in gespieltem Zorn. »Rouven! Setzen, sechs. Und dann schreibst du zehnmal in dein Heft: Sie wachen über allem, so gut wie ich sie lasse.«
Rouven ignorierte Jachaels Bissigkeit. Er fuhr in seiner Rede ungerührt fort. Und es tat ihm gut, sich auf diese Weise an alles zu erinnern.
»Die Kapelle hier ist unser Treffpunkt. Hier finden wir alle sieben Jahre zusammen.«
»Ja, ja. Und dieses hässliche Gemäuer wurde errichtet, nachdem du einst meinen Plan durchkreuzt und all diese Familien gerettet hast. Die Vorfahren der jetzigen Seelenschützer.«
»Die sechs auserwählten Familien«, stimmte Rouven zu. »Die guten Geister der Erde. Von Generation zu Generation wird dieses Amt weitergegeben. Das Fensterbild zeigt es: Meine Seelenschützer stehen als Gestalten am Rand des Bildes. Nun weiß ich es wieder.«
»Ja. Und du bist der triumphierende Held in dem Bild. Und ich liege da unten auf dem Boden wie eine zerquetschte Banane und könnte kotzen vor Wut. Ich hasse diese Schmiererei. Ich habe es immer schon gehasst. Damals, als es noch wie ein riesiger Klecks an der Wand der frisch erbauten Kapelle klatschte, und auch heute, in diesem Glasfenster, wo ich …« Jachael stockte, als er sah, wie Rouven nachdenklich die Szene betrachtete. Das Bild, das Jachael ihm vor Augen führte. Das Bild, das ihn an die Nacht erinnerte, in der Tabitha sterben musste.
»Du weißt, was sie von dir wollen?«, fragte Jachael in ruhigem Ton und wies auf die Menschen, die vor ihnen standen.
Rouven nickte. »Die Seelenschützer sind gekommen, um meine Entscheidung zu hören«, sagte er bedrückt. »Alles hatte damit begonnen, dass Nana mir von ihrer Krankheit berichtet hatte. Es war in der letzten Neumondnacht, in der ich sie in der Kapelle traf.«
»Vor sieben Jahren also«, präzisierte Jachael.
»Sie berichtete mir von ihrer Alzheimer-Erkrankung. Sie hatte fürchterliche Angst davor, weiterhin mein Kontakt auf der Erde zusein, denn sie fürchtete sich, durch die Krankheit etwas verraten zu können. Von sich und von Bernie. Von ihrem Auftrag auf der Erde und von mir. Von den Hallen der Seelen. Von Michael, ihrem Bruder. Von Arthur, einem der zwölf Seelenschützer, dem sie sich sehr verbunden fühlte. Und den sie doch nie traf, denn untereinander haben sie keinen Kontakt. Du solltest nicht erfahren, wer zu den auserwählten Familien gehört. Deshalb kannte Tabitha ihre eigene Tante auch nicht. Deshalb hat ihr Vater Michael ihr irgendwelche Lügen
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