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Sichelmond

Sichelmond

Titel: Sichelmond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Gemmel
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Sie las sich die Nachricht wieder und wieder durch. Dann versteckte sie das Stück Papier hinter dem Bollerofen. Niemand außer ihr sollte es jemals zu Gesicht bekommen.
    Sie war Anne König dankbar für diese Geste. Nicht nur, dass sie Rouven warnte, sondern auch, dass sie ihn bestätigte.
    Schließlich aber wurde Tabitha klar, dass sie handeln musste. Und sie wusste auch schon genau, was zu tun war.

R ouven kippte vornüber von der Bank und landete auf allen Vieren. Er stöhnte auf. Endlich hatte Jachael seinen unsichtbaren Griff um Rouven gelöst und ihn befreit.
    Hinter ihm lachte Jachael donnernd und dröhnend auf. »Na endlich, nun braucht es nicht mehr lange, und ich habe meinen Spielkameraden wieder«, tönte er ironisch.
    »Spielkamerad!«, zischte Rouven angewidert. »Für dich ist alles also nur ein Spiel?«
    »Alles ist immer ein Spiel«, gab Jachael zur Antwort. »Reine Ansichtssache. Ich zumindest habe meinen Spaß daran. Du doch auch, oder?«
    Rouven blieb ihm eine Antwort schuldig, und Jachael verstand sofort.
    »Du kannst dich noch immer nicht an alles erinnern, oder? Jammerschade. Und das, wo doch wirklich jede unserer Begegnungen, jeder unserer Kämpfe genügend Stoff für einen eigenen Roman gebracht hätte.« Er schnalzte zweimal mit der Zunge. »Kannst du mir denn jetzt sagen, ob es das alles wert gewesen ist? Ob der Preis nicht zu hoch war   – das alles aufzugeben nur für sie? Für Tabitha?«
    Wieder blieb Rouven die Antwort schuldig. Und wieder übernahm Jachael das Reden.
    »Oh, du hast recht. Ich sollte nichts überstürzen, nicht wahr? Vielleicht sollte ich dir noch einmal ganz genau zeigen, was du aufgegeben hast   …«
    Ohne eine Reaktion Rouvens abzuwarten, stürzte Jachael nach vorn und klemmte wieder Rouvens Kopf zwischen seine Hände. »Erinnere dich!«, fauchte er bestimmend, und vor Rouvens Augen erschienen erneut Bilder seiner Vergangenheit.
    Dieses Mal allerdings ohne das höllische Brennen und die Hitze von vorhin. Rouven vermutete, dass diese Schmerzen gar kein Teil des Erinnerungsrituals gewesen waren, sondern dass Jachael ihn vorhin aus lauter Boshaftigkeit unnötig gequält hatte.
    Jetzt aber entstand vor Rouvens Augen ein Bild, das ihn sofort mit allem versöhnte. Augenblicklich verschwanden alle Wut und alle finsteren Gedanken aus seinem Inneren. Eine wunderbare Ruhe ergriff ihn beim Anblick dieses Saales. Ein Frieden, der ihn tief berührte und der aus einer Gewissheit heraus entstand: Rouven sah sein eigentliches Zuhause.
    Er stand in einem riesigen hellen Saal, der in seiner Länge weiter reichte, als ein Auge sehen konnte. Zu beiden Seiten erhoben sich meterhohe Mauern aus feinstem Marmor, vor denen wiederum riesige Säulen standen, die weit über Rouven in geschwungenen Rundbögen ineinanderliefen.
    Es war ein Ort unvergleichlicher Ruhe und Schönheit.
    Sonnendurchflutet.
    Denn eine Decke gab es nicht. Über diesen langen Saal und die kunstvollen Bögen hinweg zog sich der blaue Himmel, einzig von wenigen weißen Wolken durchzogen.
    Hinter den mächtigen Säulen geschützt, erkannte Rouven das, was ihm das Herz tanzen ließ: winzige, unzählige Kojen, die wabenartig in die Marmorwände eingebracht waren.
    Unter jedem einzelnen Rundbogen mussten sich mehrere hundert dieser kleinen Kojen befinden. Eine jede mit einem roten Vorhang verschlossen. Und hinter diesen Vorhängen erkannte Rouven Bewegungen. Wie ein schwacher Lichthauch. Mehr zu erahnen als wirklich zu sehen. Nur wenn er sich wirklich darauf konzentrierte, konnte er die feinen Regungen erkennen.
    Rouven wandte sich nach rechts und ging langsam auf eine der hohen Wände mit ihren Kojen zu. Seine Schritte waren nicht zu hörenauf diesem Boden, der aus feinstem hellem Sand bestand und sich durch den ganzen Saal zog.
    Neben einer der Säulen verharrte Rouven. Er stand nun dicht vor den winzigen Kojen. Langsam hob er eine Hand, und es fiel ihm schwer, nicht einen der kleinen Vorhänge zu öffnen, um einen Blick in das Innere zu werfen.
    Zu gern hätte er sie gesehen. Bewundert. Obwohl er bereits wusste, was sich in den Kojen befand.
    Ebenso wurde ihm nun endlich wieder bewusst, wer er war und worin sein Auftrag bestand.
    »Die Hallen der Seelen«, flüsterte er vorsichtig. Keinesfalls sollte seine Stimme die Ruhe in diesem Saal stören. Sein Blick schweifte über einige der unzähligen Kojen. »Schlafende Seelen. Sie warten darauf, gerufen zu werden. Sie ruhen sich aus, bis es an der Zeit ist, die Reise

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