Sichelmond
aufgetischt von Rosemarie, die weit entfernt lebte – wo sie doch in derselben Stadt wohnten.«
»Und all das«, fuhr Jachael dazwischen. »Alles das hast du aufs Spiel gesetzt. Du hast mit den Ängsten dieser Menschen gespielt. Hast diese alte Frau verraten …«
»Nein!« Rouven schrie es heraus. »Ich habe niemanden verraten. Niemanden außer mir selbst.«
»Für dieses hässliche Wort mit L, nicht wahr?«
Rouven ließ den Kopf sinken. »Nana stellte mir ihre Nichte vor: Tabitha. Sie kam mit ihr in die Kapelle und flehte mich an, Tabitha als Kontaktperson für die Zukunft zu akzeptieren. Sie sei noch viel zu jung und auch nicht vorbereitet, sagte sie, doch die Angst vor der Krankheit ließe ihr keine andere Wahl.«
»Oooh«, säuselte Jachael spöttisch. »Und dann ist es passiert. Amors Pfeil. Und des Teufels Arschtritt.«
»Ich hatte mich sofort verliebt«, sagte Rouven unbeeindruckt. »Ein Blick in Tabithas Augen hatte ausgereicht. In all den Jahrhunderten, die ich auf der Erde war, hatte ich nie ein ähnliches Gefühl verspürt.« Er schluckte. »Doch ich wusste auch, was es bedeuten würde, wenn ich dieser Liebe nachgab. Ich würde meinen Auftrag abgeben müssen. Ich würde menschlich werden. Also auch sterblich.«
»Das Ende des Wächters über die Halle der Seelen, was?«
Jachael wies auf die Szene, die noch immer wie ein übergroßes Bild vor ihnen stand. »Und sie alle waren gekommen, um deine Entscheidung zu hören! Genau in dieser Nacht.«
Rouven drehte sich ihm zu. »Nicht nur sie.«
Jachael setzte ein künstliches Gesicht der Entschuldigung auf. »Na, hör mal, mich hatte doch auch interessiert, was mein liebster Feind beschlossen hatte. Da will man doch nicht fehlen …«
Rouven wandte sich wieder ab. »Ich wusste, dass ich sie enttäuschen würde. Mir war klar, dass es ein trauriger Abend für sie sein würde. Aber ich hatte nicht mit deiner Brutalität gerechnet.«
»Danke fürs Kompliment. Man tut, was man kann.«
Rouven stiegen Tränen in die Augen. Voller Mitgefühl schaute er auf die Menschen in der Szene vor ihm. »Ich hatte es ihnen mitgeteilt. Ich sagte ihnen, dass ich gegen meine Gefühle nicht ankam. Ich dankte ihnen für die jahrhundertelange Unterstützung aller Familien. Von Generation zu Generation hatte ich auf sie bauen können. Alle sieben Jahre, an jedem ersten Neumond des Frühjahrs konnte ich mich davon überzeugen, dass sie hervorragende Arbeit leisteten. Sie können nicht alles Leid von der Welt fernhalten, aber ohne sie wäre die Erde …«
»… ein wunderbar verruchter Platz. Eine Oase des Grauens. Eine einzige Insel des Schmerzes. Mein Königreich.« Jachael sang beinahe.
Wieder ignorierte Rouven sein Gegenüber. »Ich war überrascht, mit welcher Zustimmung sie mir begegneten. Tatsächlich freuten sie sich für mich über meine Entscheidung. Sie gönnten Tabitha und mir die gemeinsame Liebe. Und sie gaben mich frei. Und von diesem Moment an war ich ein Mensch.«
»Tja, und dann kam ich ins Spiel, nicht wahr? Denn du hattest eines nicht bedacht: Diese Liebe hatte dir die Sinne so vernebelt, dass du das Wichtigste aus den Augen verloren hattest, nicht wahr?«
Nun flossen die Tränen über Rouvens Gesicht. »Ich hatte nicht bedacht, dass sie von diesem Moment an nicht mehr unter meinem Schutz standen.«
»Und es gab auch keinen Nachfolger für dich, oder? Seit Beginn der Zeit bist du der Wächter über die Halle der Seelen gewesen. Niemand hätte gedacht, dass du dieses Amt einmal ablegen würdest. Undso warst du mit deinen Seelenschützern frei für den Abschuss«, rief Jachael, und Rouven merkte ihm an, dass er noch immer stolz auf diesen Abend war.
Jachael schnalzte mit der Zunge, und die Szene, vor der sie standen, kam in Bewegung.
»Bitte«, flehte Rouven. »Ich will das nicht sehen.«
»Ruhe«, schnauzte Jachael zurück. »Das ist die Stunde meines Triumphes! Lehn dich zurück. Genieße es. Wenn du darauf bestehst, besorge ich Popcorn.«
Rouven war außerstande, sich dagegen zu wehren. Selbst wenn er die Augen schloss, sah er alles deutlich vor sich. Die sechs Ehepaare, wie sie als Seelenschützer vor ihm standen. Seine Verbündeten. Gekommen, um ihm zu seinem Glück zu gratulieren. Sie waren gekommen, mit Tabitha an ihrer Seite. Es sollte die Stunde eines glücklichen Abschieds werden.
Doch plötzlich gellte ein Schrei. Alle wandten sich um. Hinter den versammelten Familien stand Jachael. Grinsend. Schnaubend. Seine Hörner gezückt.
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