Sichelmond
anzutreten und einen Menschen zu beseelen.« Rouven zog die Hand zurück, hielt den Blick aber fest auf die kleinen Vorhänge und die sanften Bewegungen dahinter gerichtet.
»Und ich bin ihr Wächter«, flüsterte er. »Ich bin der Wächter über die Halle der Seelen.«
Mit dem Wissen um seinen Auftrag erinnerte er sich auch wieder an seine Fähigkeiten. Er trat einige Schritte zurück und stellte sich aufrecht in den Saal. Er streckte die Arme weit zu den Seiten aus, schloss die Augen und konzentrierte sich auf sein zweites Wesen. Auf das Tier, das in ihm ruhte.
Schon spürte er, wie die Veränderungen in ihm vorgingen. Schon nahm er das wunderbare Gefühl wahr, der ausschießenden Federn in seiner Haut. Spürte das Wachsen des Schnabels und die Veränderung in seinen Füßen, die sich rasch in Krallen verwandelten.
Seine Augen verloren ihre Farbe und erstrahlten in einem hell schimmernden Weiß.
Schließlich stand er als riesige Krähe in dem hellen Saal. Denn der Mythos, den die Menschen sich erzählten, entsprach der Wirklichkeit: Vögel hatten die Kraft und die Begabung, wandernde Seelen zusehen und sie zu begleiten. So singt ein Sperling laut auf, wenn er eine Seele wandern sieht. Ein Pfau schlägt ein Rad, um die Seelen auf ihrer mühsamen Reise zu erfreuen. Kolibris tanzen, von den Menschen meist unbeachtet, um ihrer Freude Ausdruck zu verleihen. Und ein Schwan reckt sich und plustert sich auf, als Willkommensgruß, wenn eine Seele in ein Neugeborenes fährt.
Und über all das wachte Rouven, die Krähe.
Immer schon.
Seit Anbeginn der Menschheitsgeschichte.
Rouven verwandelte sich zurück, schaute jedoch noch immer auf die Kojen der ruhenden Seelen. Er konnte den Blick nicht davon abwenden.
Ihm war bewusst, dass er sich in diesem Moment in keiner Illusion befand. Jachael hatte ihm keine Bilder von der Halle der Seelen gegeben. Er hatte Rouven hierhergebracht. An diesen Ort, wo Rouven sich wieder an alles erinnern durfte und es auch konnte.
An alles. Auch an den jahrtausendealten Kampf der beiden.
Rouven stand für das Gute in der Welt. Die Seelen verließen diesen Ort in ihrer reinsten Form, wenn sie sich auf Wanderschaft begaben. Unschuldig waren sie. Offen und frei für das, was sie erwartete.
Doch ebenso gab es auch die andere Seite.
Das Dunkle.
Das Bedrohliche.
Jachael.
In der Gestalt des wilden Stieres machte er Jagd auf die Seelen der Menschen. Er sammelte sie. Verdarb sie. Zog sie auf seine Seite. Durch ihn kam das Böse in die Welt. Durch ihn und seine Mitstreiter. Denn natürlich war Jachael nicht allein. Es gab viele wie ihn.
Doch auch Rouven hatte seine Helfer: die Seelenschützer. Unbemerkt und unerkannt lebten sie auf der Erde, inmitten der Menschen. Nur mit ihrer Hilfe konnte Rouven …
Ein Lachen riss ihn aus seinen Gedanken. Ein wildes, irres Lachen. Und im nächsten Moment lösten sich die Mauern um Rouven herumauf. Die Säulen, die Bögen, der helle Boden – das alles schien sich in Nichts aufzulösen. Bis Rouven sich in der Kapelle wiederfand. Jachael gegenüber, der ihn breit angrinste.
»Heimatluft geschnuppert?«, kicherte er. »Hast du auch schön nachgezählt, ob noch alle da sind, deine kleinen Seelchen? Deine Schützlinge? Diese Abbilder zuckender Ungeduld?«
Rouven ging nicht darauf ein. »Was willst du?«
»Ich warte immer noch auf eine Antwort. Noch immer hast du meine Frage ignoriert: War es das wert? Du hast für sie die Halle der Seelen aufgegeben. Du hast für sie deinen Auftrag vergessen. Wegen ihr hast du deine Erinnerungen an die Halle und an mich verloren. Und vor allem das Wichtigste: Du hast mich versetzt. Alles für Tabitha. Ein hoher Preis, nicht wahr? Und das für eine Sterbliche.« Er grinste noch breiter. »Oh, entschuldige: für eine Gestorbene.«
Seine Worte trafen Rouven tief. Jachael schien es zu bemerken und schlug weiter in diese Wunde ein. »Alles hast du aufgegeben. Für sie. Du bist menschlich geworden. Verletzbar. Erbärmlich. Und dann hast du sie getötet!«
»Ich … Ich habe …« Rouven seufzte. Er wusste keine Antwort zu geben.
Jachael hob schnell die Hand. »Streng dich nicht an«, sagte er bestimmend. »Du kannst mich nicht täuschen. Ich weiß, dass du dich nicht an die Nacht erinnern kannst, in der es geschehen ist. Deine Erinnerung aufzugeben war ein weiterer Preis für Tabitha. Deine Erinnerung. Ihre Erinnerung. Meine Güte, da kam eine ziemliche Rechnung zustande, was? Und das alles völlig umsonst.« Er
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