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Sichelmond

Sichelmond

Titel: Sichelmond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Gemmel
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Er hechtete zu seinem Schreibtisch und zog aus der Schublade seine zweite Waffe heraus.
    Mayers verzog das Gesicht. »Glaubst du, wir brauchen das?«
    »Ich hab sie nicht geladen«, antwortete Tallwitz. »Aber mit so einem Ding vor der Nase, da kannst du schon mal so manchen Menschen stoppen, wenn er es eilig hat.«
    Plötzlich verfiel Mayers in einen nachdenklichen Ton. »Ich hoffe, er macht uns keinen Ärger, der Junge.«
    Tallwitz steckte die ungeladene Pistole ein. »Du magst ihn auch, oder?«
    »Klar. Sonst hätte ich ihm nicht geholfen. Ich habe noch nie gemeinsame Sache mit einem Inhaftierten gemacht. Egal ob schuldig oder nicht. Aber dieser Rouven, der hat irgendwas.«
    »Vor allem glaube ich nicht, dass er wirklich schuld ist an alledem«, gab Tallwitz zu bedenken.
    Und Mayers nickte. »Dennoch. Wir müssen ihn wieder hierherholen. Um jeden Preis. Auch, um ihn zu schützen.«
    Tallwitz zeigte auf den Schreibtisch. »Erledigst du noch schnell den Papierkram? Ich muss noch wohin.«
    Mayers lachte auf. »Ah, verstehe. Ein Schuss aus deiner dritten Waffe, was?«
    »Blödmann«, ulkte Tallwitz zurück.
    Und Mayers setzte noch einen drauf: »Na, da muss ich mir ja keine Sorgen machen. Ist ja nur ’ne Spritzpistole. Und dann auch noch so winzig klein.«
    Der Ordner, der auf ihn zugeflogen kam, streifte ihn nur knapp. »Der nächste trifft«, lachte Tallwitz. »Also: Klappe halten und Papierchen schreiben, klar?«
    Mayers winkte nur ab, hob den Ordner auf, stellte ihn auf seinen Schreibtisch und zog dann aus einem der vielen grauen Ablagefächer das Formular hervor, das für diesen Außeneinsatz nötig war. Er blickte zum Kalender, um sich des Datums zu vergewissern, während er gleichzeitig nach seinem Kugelschreiber langte. Doch seine Hand griff ins Leere. Mayers schaute sich um. Die Tasse, in der er seine Stifte bewahrte, stand nicht an ihrem Platz. Jemand hatte sie auf die äußerste Ecke des Tisches gestellt. Brummelnd zog Mayers sie wieder zurück, an ihre Stelle direkt neben seinen PC -Monitor. Er schaute noch einmal auf den Kalender, dann setzte er sich hin   … und erstarrte. Die Tasse mit den Stiften stand wieder auf der Ecke des Tisches.
    Mayers erhob sich langsam, den Blick fest auf die Tasse gerichtet. Auf das Bild des Bullen-Cartoons. Das gezeichnete Gesicht eines fetten Bullen, dem Tallwitz rote Turnschuhe gemalt hatte, bevor er die Tasse vor zwei Jahren Mayers zu Weihnachten geschenkt hatte.
    Mayers streckte langsam die Hand aus und zog die Tasse mit den Stiften zurück an ihren Platz neben dem Monitor. Dann zog er die Hand langsam zurück und verharrte. Den Blick fest auf die Tasse gerichtet. Auf den Bullenkopf, die gezeichneten roten Turnschuhe und den Satz, den Tallwitz darüber geschrieben hatte: »Wenn ein Bulle doppelt rot sieht.«
    Mayers hielt den Atem an und wartete. Den Blick unverwandt auf die Tasse gerichtet. Und er zuckte sichtbar zusammen, als es geschah: Die Tasse ruckte kurz, dann schob sie sich langsam an die Ecke des Tisches.
    Mayers sprang einen Schritt zurück. »Was geht hier vor?« Erschaute schnell unter die Tischplatte, in der Hoffnung, einen ferngesteuerten Magneten vorzufinden. Doch schon beim Herunterbücken wusste er, dass das Unsinn war.
    Etwas zittrig in den Händen griff er erneut die Tasse und stellte sie zurück. Doch dieses Mal bewegte sie sich nicht. Dieses Mal hob sich Mayers tiefschwarzer Lieblings-Kugelschreiber wie von selbst in die Höhe. Er schwebte zwischen Monitor und Tasse, und Mayers wusste nicht, wie er reagieren sollte. Schließlich bewegte sich der schwebende Kugelschreiber auf den Bogen Papier zu, den Mayers bereitgelegt hatte. Und mit großen Buchstaben schrieb der Stift auf den Antrag: »Bitte nicht erschrecken.«
    Mayers schaute auf die Buchstaben. Unfähig, irgendetwas zu sagen oder zu tun. Der Kugelschreiber schwebte nun wieder ruhig über dem Blatt, bis das Papier selbst sich erhob und direkt vor Mayers Gesicht schwebte. Gerade so, als wolle es sichergehen, dass er es auch gelesen hatte.
    Mayers suchte nach Worten, als die Bürotür geöffnet wurde und Tallwitz im Raum erschien.
    »So, alles erledigt«, sagte er gut gelaunt. »Wir können jetzt   …« Er verstummte. Verdutzt blickte er auf das schwebende Blatt Papier, auf den Kugelschreiber und auf Mayers verblüfftes Gesicht. »Was geht denn hier   …«
    »Komm näher«, bat Mayers mit zittriger Stimme. »Lies mal, was   …«
    Doch es war nicht nötig, dass Tallwitz zum Tisch kam.

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