Sichelmond
beschützt, aber ich bin sicher, sie hatten sich untereinander getroffen. Vielleicht nicht oft, aber einen Austausch gab es bestimmt. Und wenn es nur alle sieben Jahre war – dann, wenn ich in einer Neumondnacht zu ihnen kam, als Säugling. Bestimmt haben sie mich stets gemeinsam in der Kapelle erwartet. Es muss solche Treffen gegeben haben.«
»Hoffentlich«, seufzte Tabitha.
Rouven ging zu Nana und hockte sich vor ihr auf die Erde. »Rosemarie?«, fragte er leise und blickte ihr ins Gesicht.
Nana horchte wieder auf. Wie zuvor.
Tabitha trat zu den beiden heran und setzte sich neben Rouven ebenfalls auf die Erde. Auch sie versuchte in dem Gesicht ihrer Tante eine Regung zu finden.
Rouven wandte sich Tabitha zu und erklärte leise: »Ich habe vorhin versucht, ihr Gedächtnis zu reaktivieren. Vielleicht gibt es ein Wort, eine Geste, einen Namen, der ihr hilft, sich zu erinnern. Wie bei einem Schlüssel, der eine verschlossene Tür öffnet.«
»Ich verstehe, was du meinst«, antwortete Tabitha und sah Nana erneut an. »Rosemarie? Rosemarie Mallert? Ich bin’s, Tabitha. Deine Nichte. Die Tochter von Michael.«
In Nana arbeitete es. Die Augen zuckten. Man merkte ihr an, wie sehr sie sich anstrengte, das, was sie hörte, in Einklang mit dem zu bringen, was sie vielleicht kannte.
»Michaels Tochter«, hakte Tabitha noch einmal nach.
Nana grübelte.
Rouven übernahm das Reden: »Du hast sie bestimmt schon einmal im Arm gehalten«, sagte er. »Damals, als sie noch ein Baby war.«
Die Unruhe in den Augen legte sich. Nana blickte auf den Boden, noch immer angestrengt nachdenkend, jedoch ohne Hektik.
Rouven nahm ihre Hände in seine eigenen und redete mit einersanften Stimme zu ihr. »Du hast ihr gewiss Lieder gesungen und sie ins Bett gebracht. Vielleicht hast du ihr die Flasche geben dürfen. Oder später sogar den Kinderbrei. Gute Tanten machen so etwas. Und du warst bestimmt die beste Tante von allen. Kannst du dich nicht erinnern?«
Nana nickte leicht. Ihre Blicke wanderten von dem Boden zu Tabitha. Sie sah das Mädchen nachdenklich an.
»Dann kam wohl die Zeit, in der ihr euch nicht mehr sehen durftet«, sagte Rouven. Er hoffte nur, dass er mit all seinen Vermutungen richtig lag. »Du hast gewiss Bilder von ihr gesehen, die Michael dir mitgebracht oder geschickt hatte. So etwas wie: Tabitha im Kindergarten. Tabitha an ihrem ersten Schultag. Tabitha vor dem Weihnachtsbaum. Oder auch die Familie: Michael, seine Frau und Tabitha an ihrer Seite.«
Er sprach auf Nana ein. Mehr und mehr. Bis sich mit einem Mal die Farbe seiner Augen veränderte und seine Stimme in einen flüsternd-hauchenden Ton verfiel. Sanft und ruhig sprach er mit Nana, und endlich erreichten seine Worte ihre Seele. Nun sprach er nicht mehr zu ihrem Verstand. Er sprach zu dem, was sich tief in Nana befand. Zu ihren Gefühlen, ihren Sehnsüchten, ihren Träumen und zu dem, was sie einst tief in ihr Herz geschlossen hatte – in ihr Herz, das sie bis vor Kurzem noch besaß und das riesig groß gewesen sein musste.
Er sprach von ihr und von sich. Und schließlich auch von Tabitha. »Erinnere dich an den Moment, an dem du deine Nichte zum ersten Mal im Arm hattest«, bat er sie schließlich. »Die Wärme, die von diesem Baby ausging. Die Zartheit. Denk an das Gefühl, das sie in dir ausgelöst hat, als du ihren Namen zum ersten Mal gesagt hattest …«
»Tabitha«, stieß Nana plötzlich hervor, und ihre Augen füllten sich mit Tränen. Langsam drehte sie den Kopf und blickte Tabitha mit einem Blick an, der ihrem bisherigen Blick in nichts mehr ähnelte. Konzentriert und offen blickte sie Tabitha an. Und vor allem voller Leben und Zärtlichkeit. »Tabitha? Bist du es wirklich?« Sie zog ihre Hände aus Rouvens Händen und streckte sie Tabitha entgegen. »Tabitha?«
Nun schossen auch Tabitha Tränen in die Augen. »Rosemarie«, stieß sie hervor, und in diesem Moment riss Nana Tabitha an sich. »Tabitha. Kind. Was hast du mir gefehlt.« Sie hielt sie fest in den Armen. »Endlich darf ich dich halten. Endlich bist du hier, bei mir. Bist mir nahe.« Sie drückte Tabitha noch enger an sich. »Wie habe ich mich nach diesem Moment gesehnt. Es war für mich das größte Opfer, dich nicht mehr sehen zu dürfen.« Sie löste sich aus der Umarmung und hielt den Blick liebevoll auf Tabitha gerichtet. Ihre Stimme klang klar und fest. »An jedem Sonntagabend hatte dein Vater den Vorhang an deinem Fenster offen gelassen, sodass ich dich sehen
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