Sichelmond
ab. »Bernie, wo kommst du denn her?«
Rouven wagte einen kleinen Vorstoß. Er wusste ja nicht, woran er eine gute Gelegenheit erkennen konnte, und so versuchte er sich vorzutasten. »Ich komme von Rouven.«
»Rouven?«
»Kennst du ihn?«
Nana dachte angestrengt nach. »Dieser Name. Hm … Nein, das sagt mir erst einmal nichts. Ein Freund von dir?«
Rouven verzog enttäuscht das Gesicht. »Ja, so etwas wie ein Freund. Ich kenne ihn recht gut.« Er hoffte darauf, eine Art Schalter in ihrem Kopf betätigen zu können. Vielleicht konnte er mit dem richtigen Begriff Nanas Gedächtnis in Gang bringen. Ein Reizwort, das ihre Erinnerung wie ein Schlüssel öffnete. Denn vielleicht kamen mit einer kleinen Erinnerung auch viele weitere, und Nana könnte ihm den Namen der letzten Familie verraten. Die verbliebenen Seelenschützer, die unerkannt in der Stadt lebten und nichts ahnten von der Gefahr, in der sie gerade schwebten. Ihm blieb nur noch die Zeit bis zum nächsten Neumond. Dann würde Jachael die letzte Seelenschützer-Familie aufsuchen. Das letzte Ehepaar, das noch unerkannt unter den Menschen lebte. Nana war der einzige Zugang zu ihnen.
»Wir haben uns auf dem Friedhof getroffen«, versuchte Rouven einen weiteren Vorstoß. »An der Kapelle.«
»Kenne ich«, sagte Nana, und Rouven strahlte.
»Bestimmt?«
»Aber ja«, sagte Nana. »Der Friedhof. In der Stadt. Am Hafen. Bin oft dort gewesen.«
Rouven staunte. Zum ersten Mal zeigte Nana eine echte Erinnerung. »Kennst du die Kapelle dort?«
»Natürlich.«
»Und das Fensterbild?«
Nana dachte wieder nach. »Fensterbild?«
»In der Kapelle.«
Sie schüttelte den Kopf. »Da ist kein Fensterbild. Nur graue Mauern. Dennoch finde ich sie sehr schön, diese Kapelle.«
In Rouven keimte eine Ahnung. »Kannst du sie mir beschreiben?«
»Die Kapelle?« Sie kicherte. »Warum, du bist doch vorhin dort gewesen.«
»Dennoch, Nana: Wie sieht sie aus?«
Nana ließ sich darauf ein, obwohl sie sich doch sehr über dieseFrage wunderte. »Na, rotes Backsteingebäude, mit einem kleinen Glockentürmchen obenauf. Darin gibt es einige Heiligenbilder, einen dunklen Fliesenboden und natürlich die Bänke aus Holz. Ach ja: Die Tür ist aus Eiche. Tiefer, dunkler Eiche. Warum fragst du?«
»Ach, nicht so wichtig«, gab Rouven zurück. »Danke.«
Enttäuscht sah er zu, wie sie aufstand und zu ihrem Ofen ging, um den Tee zuzubereiten. Sie hatte sich nicht an die Kapelle am Hafen erinnert. Sie hatte wieder einmal alle Erinnerungen durcheinandergebracht und an eine völlig andere Kapelle gedacht, die es vielleicht irgendwo sonst in der Stadt gab. Oder in einer anderen Stadt. Oder in einem anderen Land. Auf einem anderen Kontinent … Was auch immer. So kamen sie nicht weiter. Auf diese Art würde Rouven niemals den Namen der Familie erfahren. Insgeheim verfluchte Rouven diese fürchterliche Krankheit, von der Nana befallen war. Wie von einem Radiergummi waren in Nanas Verstand fast alle Erinnerungen gelöscht worden. Rouven blickte auf eine Frau, die das bisschen, was ihr noch an Gedächtnis geblieben war, mehr und mehr durcheinanderbrachte.
Er musste anders vorgehen. Ein anderes Schlüsselwort finden. Einen anderen Schalter betätigen. Jeder Radiergummi hinterließ auf einem Blatt Spuren. Manchmal nur hauchdünn. Aber vielleicht reichte es für Nana aus, solch eine Spur in ihrem Gedächtnis zu finden, um auch die verlorenen Erinnerungen zurückzuholen. Das zumindest war Rouvens einzige Hoffnung. Der Strohhalm, an den er sich klammern musste. Der Rettungsring, mit dem er …
Ein Geräusch ließ ihn aufhorchen. Jemand war vor der Tür des Wasserwerks. Rouven konnte Stimmen vernehmen: Männerstimmen.
Nana hatte auch etwas gehört. »Erwartest du Besuch, Michael?«, fragte sie. »Vielleicht hat deine Familie doch Zeit gefunden hierherzukommen, und sie …«
Die Stahltür wurde geöffnet, und Rouven sprang von seinem Platz auf. Er schnappte sich ein meterlanges Wasserrohr, stellte sich dicht an die Wand, direkt neben dem Eingang zur Halle, und hielt dasdünne Rohr wie einen Baseballschläger in beiden Händen. Bereit, auf alles einzuschlagen, was diesen Raum betrat.
Nana machte Rouvens Reaktion Angst. Sie stellte rasch den Kessel zur Seite und verkroch sich in ihre Ecke.
Rouven nickte ihr bestätigend zu, dann hörte er bereits Schritte in dem langen Flur hallen. Kurz darauf sah er die Schatten der Menschen, die auf die Halle zukamen.
Rouvens Hände zogen sich enger
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