Sichelmond
hinaus. Darf ich Ihnen einen wichtigen Rat geben?«
Mayers war gespannt. Vielleicht brachte dieser Besuch doch noch etwas Gutes. »Ich bitte darum.«
Der Professor drückte seinen Rücken durch. Er war sichtlich davon angetan, dass man seinen Rat wieder suchte. »Sprechen Sie mit dem Jungen. Reden Sie auf ihn ein. Er weiß bestimmt mehr, als wir alle vermuten.«
Stimmt, dachte Mayers für sich.
»In solchen Fällen hängt oft alles an einer Person. Die Geschichte lehrt uns das.« Er hob schnell die Hand, bevor Mayers etwas sagen konnte, und ergänzte selbst hastig: »Keine Angst, ich werde keinen Vortrag halten.«
Mayers atmete erleichtert aus.
»Mein Rat lautet folgendermaßen«, fuhr der Professor fort. »Ich bin sicher, dass der Junge zu irgendetwas gebracht werden soll. Gewiss soll er irgendetwas tun oder etwas anderes lassen. So ist es doch meist in solchen Fällen. Mir scheint, dass die entführten Familien – und es sind ja eher nur Ehepaare denn ganze Familien – als Druckmittel eingesetzt werden. Ich vermute, der Junge wird erpresst. Und Sie sollten ihm klarmachen, dass er nachgeben soll. Er soll sich dem fügen, was man von ihm möchte. Egal, was es ist.«
Mayers kratzte sich nachdenklich am Kopf. Das klang vernünftig, dachte er. Aber doch wieder nur so schwammig, dass er sich nichts Konkretes darunter vorstellen konnte. »Eine Art Erpressung also?«
Professor Dattel nickte. »Das Leben der Ehepaare gegen das, was immer der Junge tun soll. Ganz gewiss.«
»Vielen Dank, Herr Professor«, antwortete er also. »Ich denke, Sie haben uns da auf eine gute Spur geführt.«
Professor Dattel strahlte ihn an. »Gern geschehen. Sie sehen, wie gut es ist, dass ich doch noch hereingeschaut habe.«
»Da haben Sie recht«, bestätigte Mayers und meinte diesen Satz auch ernst. »Doch jetzt werden wir uns erst um die gefährdete Familie kümmern. Ich denke, das hat Vorrang vor allem anderen.«
»Stimmt«, entgegnete der Professor. »Und ich danke Ihnen, dass Sie mich eingeweiht haben in Ihre Pläne. Das war sehr interessant und aufschlussreich.« Und erneut hob er die Hand, um Mayers zuvorzukommen. »Selbstverständlich behandele ich Ihre Informationen sehr vertraulich. Keiner Menschenseele werde ich davon erzählen.«
Und mit diesen Worten machte er kehrt und ging aus dem Raum. In aller Ruhe zog er die Tür hinter sich zu. Mit seiner Aktentasche inder Hand durchschritt er den langen Flur und ging die Treppe hinunter, die zum Ausgang führte. Er verabschiedete sich von dem Pförtner, trat hinaus ins Freie, schritt über den Parkplatz hinweg und erst, als er sich absolut sicher wähnte, zeigte sich ein Lächeln in seinem Gesicht.
»Oh, glauben Sie mir, verehrter Herr Mayers«, murmelte er zufrieden vor sich hin. »Ich werde niemandem von Ihrer Suche nach dem sechsten Ehepaar erzählen.« Er warf die Aktentasche in eine Mülltonne am Straßenrand. »Niemandem werde ich davon erzählen, aber es war doch sehr aufschlussreich für mich zu erfahren, was Ihre Pläne sind.« Er zog die Fliege von seinem Kragen und warf sie in einem hohen Bogen über eine Hecke. »Und zudem habe ich Ihnen einen kleinen Floh ins Ohr setzen können.« Die Brille zog er sich von der Nase und warf sie in einen Gulli am Straßenrand. »Vielleicht ist es mir ja gelungen, Sie zu bewegen, Rouven anzustacheln.« Das Bärtchen an seinem Kinn begann unmerklich, sich zurückzuziehen. Gleichzeitig verfärbten sich allmählich seine Haare von dem hellen Weiß in ein tiefes Schwarz. Der rundliche Kopf ging über in eine längliche Form, und es dauerte nur noch Sekunden, bis das diabolische Grinsen das gesamte Gesicht einnahm. Dieses Grinsen, mit dem er seine Feinde schon mehrfach das Fürchten gelehrt hatte. »Vielleicht gelingt es Ihnen ja, Rouven dazu zu bringen, gegen mich anzutreten«, sagte er und schnalzte mit der Zunge. »Doch jetzt werde ich erst einmal der ach so gefährdeten Familie einen verfrühten Besuch abstatten, bevor das jemand anderes tut. Das war gut überlegt, lieber Rouven. Ich sehe, du gewinnst deinen alten Kampfgeist wieder. Aber ich hatte dir ja vorausgesagt: Du hast keine Chance. Dieses Mal nicht …«
Noch einmal schnalzend bog Jachael in eine Seitenstraße ein und ließ nur noch sein hämisches Lachen hören.
R ouven war völlig verzweifelt. Die Nana, vor der er hier kniete, hatte nur wenig gemeinsam mit der Nana, die sich vorhin an alles erinnert und mit Begeisterung Tabitha und ihn wiedererkannt hatte.
Auch
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