Sichelmond
denn?«, beschwerte sich Tallwitz, als Mayers endlich das Büro betrat. »Ich dachte, wir wollten den Fall noch einmal aufrollen.« Er zeigte auf den Schreibtisch, der beinahe überquoll. Unter all den Akten, Fotos, Berichten, Zeugenaussagen und Protokollen war die Farbe des Schreibtisches nicht mehr zu sehen. Der Fall um den »Neumond-Täter« hatte inzwischen ungeahnte Dimensionen angenommen.
»Darum hab ich mich gekümmert«, antwortete Mayers in einem etwas ironischen Tonfall.
»So?« Tallwitz schob ein paar Akten zur Seite, sodass er die Hände aufstützen konnte. »Fast eine Stunde warte ich schon. Erst hab ich dich ewig unten am Wagen telefonieren sehen, und dann warst du völlig verschwunden.«
»Ich hab uns was besorgt«, grinste Mayers, und jetzt erst fiel Tallwitz auf, dass sein Kollege etwas hinter dem Rücken verbarg.
Tallwitz’ Laune hob sich sofort. »Oh, was denn? Pizza? Döner? Currywurst?«
Mayers lachte laut auf. »Ja, das hätte ich mir denken können, dass du wieder nur ans Essen denkst. Nein, Junge, tut mir leid. Ich hab nichts Essbares dabei.«
»So? Schade.« Die Enttäuschung war nur zum Teil gespielt.
»Ich hab im Gegenteil etwas, das dir deinen jetzigen Appetit eher gründlich verderben wird.« Er zog hinter seinem Rücken eine Akte hervor, auf der Tallwitz den Vermerk »Tabitha Berns« lesen konnte. »Die Fotos kennst du ja. Da verschlägt es dir eher den Hunger.«
Tallwitz pfiff durch die Zähne. »Du hast die alte Akte wieder ausdem Archiv genommen? Ich hatte sie doch neulich erst dort hingebracht.«
»Die beiden Fälle hängen zusammen. Das ist klar. Tabithas Eltern werden vermisst. Und Rouven selbst hat von ihr gesprochen. Ich hatte bisher vermutet, der Junge hatte den Namen des Mädchens irgendwo gelesen. Oder ein Bild in der Wohnung gesehen. Vielleicht kennt er sie auch aus der Schule oder so. Ehrlich gesagt, hatte ich das alles eher für einen Zufall gehalten, aber wir sollten wirklich jeder Spur nachgehen.«
Tallwitz wies auf die Akte. »Unschöne Sache, nicht wahr? Es war zwar nicht unser Fall, aber die Kollegen haben damals monatelang über kaum etwas anderes gesprochen, weißt du noch?«
»Es war ja auch zu heftig. Ein junges Mädchen. Tot. Neben einigen anderen Leichen. Rund um die alte Kapelle verteilt. Das Herz herausgerissen. Wie bei einem Ritualmord.«
»Es war das reinste Schlachtfest gewesen. Die Bilder gehen mir bis heute nicht mehr aus dem Kopf.«
»Weißt du noch, wie wir über die Ermittler gelacht hatten, weil sie felsenfest behauptet hatten, die vielen Spuren, die sie hinter der Kapelle gefunden hatten, seien eher von Tieren als von Menschen gewesen?«
»Ich weiß. Sie sprachen von tiefen Spuren in der Erde, gerade wie von einem Huf. Zudem fanden sich Abdrücke von riesigen Vogelkrallen.«
Tallwitz fischte aus dem riesigen Stapel an Unterlagen ein Foto von den bekannten Symbolen an den Türen der Tatorte hervor. Er zeigte auf die Vogelkralle unter der Mondsichel.
Mayers nickte. »Das brauchst du mir nicht zu zeigen. Diese Verbindung habe ich auch schon gezogen. Glaub mir, heute würde ich nicht wieder über die Kollegen lachen.«
»Vielleicht lachen sie bald über uns«, erwiderte Tallwitz. »Vieles von dem, was wir zusammengetragen haben, klingt so verrückt und unglaublich …« Er weigerte sich, den Gedanken zu Ende zu denken.
Und so nahm Mayers das Gespräch schnell wieder auf: »Zumindest ist dieser Massenmord am Hafenfriedhof nie geklärt worden.«
Tallwitz blickte noch einmal auf die Akte. »Und du glaubst, der Junge könnte …«
Schnell winkte Mayers ab. »Nein! Eher nicht. Zu so etwas ist er bestimmt nicht fähig. Dennoch könnte es eine Verbindung geben.«
Mayers schlug die Akte auf. Betroffen blickten die beiden Ermittler auf das Foto, das Tabitha in einer riesigen Blutlache zeigte.
»Die Eltern hatten sehr darunter gelitten.«
»Ich weiß. Eine sehr nette Familie.«
»Und jetzt sind sie wieder Opfer eines Verbrechens.«
Mayers nickte. »Und sie sind nicht die einzigen. Zehn Menschen sind es bereits. Fünf Ehepaare, die inzwischen verschwunden sind. Nach den Einbrüchen in ihre Wohnungen.«
»Immer in Neumondnächten. Wieder Ritualtaten?«
Mayers zog die Schultern in die Höhe. »Ich kann es dir nicht sagen. Aber unser Rouven steckt da irgendwie mit drin. Denk doch nur mal an die Buchstaben an der Tür. Sie ergeben ja wohl eindeutig seinen Namen.«
»Es fehlt nur noch das N«, gab Tallwitz zu bedenken.
»Stimmt. Dann
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