Sichelmond
Antwort. »Es ist das Jahr 1948. Soll ich nun zum Unterricht gehen?«
»Lass uns lieber noch ein Stück wandern«, bat die Stimme. Und auch diesen Gefallen tat ihr Rouven gern, ohne auch nur darüber nachzudenken. »Lass uns die Wanderung durch dein Leben fortsetzen. Geh ein Stück weiter durch die Zeit, Rouven, ja?«
Vor Rouvens Augen verschwammen die Bilder der Schule, seiner Adoptiveltern und des leuchtenden Bildes im Hintergrund. Stattdessen formte sich ein neuer Anblick: Rouven befand sich in einem Haus. In einer Wohnung. In einer Küche. Er saß an einem langen, reich gedeckten Tisch, gemeinsam mit fünf Kindern und zwei Erwachsenen. Er beschrieb alles der Stimme und versuchte kein Detail auszulassen. Die Klöße und das Gemüse beschrieb er ebenso genau wie die Holzmöbel, die niedrige Decke des Raumes und auch die Tierlaute, die von draußen zu ihnen drangen.
»Du machst das sehr gut«, lobte ihn die sanfte Stimme. »Ich danke dir, dass du mich so eindrücklich mitnimmst bei deiner Wanderung. Darf ich dir eine Frage stellen?«
»Gern«, antwortete Rouven. Er fühlte sich wohl an diesem Tisch, in diesem Raum, mit diesen Menschen, von denen er wusste, dass er als Gastkind aufgenommen war. Wieso er das wusste, konnte er sich nicht erklären, doch er war sich absolut sicher, dass diese Erwachsenen nicht seine Eltern waren, sondern dass sie ihn bei sich aufgenommen hatten und ihn wie ein eigenes Kind behandelten.
»Meine Frage, Rouven, lautet: In welchem Jahr befinden wir uns?«
Rouven schaute sich um. Er fand keinen Hinweis, doch er war gewillt, der sympathischen Stimme die Frage zu beantworten. Also wandte er sich der Frau am Tisch zu und fragte: »Welches Jahr haben wir?«
Die Frau lachte Rouven herzlich an. »Du stellst Fragen«, antwortete sie, und ihre Stimme klang ebenfalls wie weit entfernt. Gerade so, als ob sie in einem Traum zu Rouven spräche. »Als ob du das nicht wüsstest! Du freust dich doch schon so lange auf den morgigen Abend. Auf das neue Jahrhundert. Wir haben 1899. Aber nur noch bis morgen Nacht!«
Rouven nickte ihr dankbar zu, dann wandte er sich an die Stimme: »Wir stehen kurz vor Silvester 1899«, sagte er.
»Bist du sicher?«, hakte die Stimme nach, und Rouven erinnerte sich, dass sie dies schon einmal gemacht hatte. Der Stimme schien es ungewöhnlich, dass sie sich in dieser Zeit befanden. Für Rouven war das alles völlig normal. Er schaute aus dem Fenster. Es schneite. Die Straße, auf die er von hier aus schauen konnte, war von einer Schneeschicht bedeckt. Menschen eilten am Fenster vorbei, tief in Schals und Mützen vergraben.
»Ich denke schon, dass es stimmt«, sagte er der Stimme, bevor ihm etwas ins Auge fiel, das er sich gern genauer angesehen hätte: eine Bruchsteinwand am Ende der Straße. Ein riesiges Fenster war in diese Wand eingelassen, auf dem sich in bunten Farben ein Bild befand. Es schimmerte. Rouven wollte sich gerade vom Tisch erheben und sich näher an das Küchenfenster stellen, um dieses besondere Fenster in der Weite besser sehen zu können, als ihn die Stimme wieder ansprach: »Bist du bereit, deine Wanderung noch ein Stück fortzusetzen?«
Rouven hätte gern das Fenster in der Ferne betrachtet. Irgendetwas in ihm ließ ihn spüren, dass dieses Fenster etwas mit ihm zu tunhatte, doch keinesfalls wollte er die nette Stimme enttäuschen. Also gab er sich zufrieden, eine Mondsichel und eine Vogelkralle gesehen zu haben, und verzichtete darauf, die Figuren, die sich darunter befanden, genauer ausmachen zu können. Er wandte sich um und sagte: »Ich bin bereit.«
»Sehr schön, Rouven. Lass dich wieder von meiner Stimme leiten, und nimm mich mit auf die Reise durch die Zeit.«
Wieder verschwamm das Bild vor seinen Augen. Rouven tat es leid, die Familie ziehen lassen zu müssen. Er wusste, dass er jeden einzelnen von ihnen sehr mochte.
Bevor sich eine neue Ansicht einstellte, wehte Rouven ein kalter Wind ins Gesicht. Er hörte ein durchdringendes Knarren und eine Männerstimme, die rufend Befehle gab. Dann formte sich vor Rouvens Augen ein riesiger Schiffsmast, dessen Segel gerade von mehreren Männern eingeholt wurden. Sie steckten in der Tagelage des Schiffes, und Rouven bewunderte die Geschicklichkeit, mit der sie gemeinsam ihrer Arbeit nachgingen.
Das Schiff, auf dem Rouven sich befand, steuerte gerade einen Hafen an. Die Stadt dahinter kam Rouven bekannt vor.
Neben ihm stand ein groß gewachsener Mann, der ebenfalls die Mannschaft beim Einholen
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