Sichelmond

Ordner angelegt, der sich in seinem alten Büro befinde, und darüber müsse er dringend mit mir sprechen. In einem Nebensatz ließ er auch den Begriff des ›Neumond-Täters‹ fallen.«
    Wenn dem Professor auch schon zuvor die ungeteilte Aufmerksamkeit der beiden Polizisten sicher gewesen war, so hingen sie ihm nun regelrecht an den Lippen.
    Dattel jedoch ließ sich nicht anmerken, dass er es bemerkte und dieses Interesse genoss. Er fuhr scheinbar unberührt mit seiner Erklärung fort. »Sie können sich denken, dass ich mir sofort nach Ihrem Anruf, Herr Mayers, den betreffenden Aktenordner heraussuchte. Und tatsächlich habe ich ein paar Informationen für Sie.«
    Mayers und Tallwitz neigten sich auf ihren Stühlen dem Professor zu. »Und?«
    Dattel machte eine kurze Pause, dann sagte er: »Dank der wunderbaren Vorarbeit meines geschätzten Kollegen Weber kann ich Ihnen versichern, dass es einen ähnlichen Fall bereits gegeben hat.«
    Mayers klatschte in die Hände. »Volltreffer!«, triumphierte er.
    Tallwitz staunte: »Wir haben es mit einem Serientäter zu tun?«
    Professor Dattel winkte entschieden ab. »Das glaube ich eher nicht.«
    Mayers Triumph schien bereits beendet. »Was? Warum nicht?«
    »Der Fall, von dem ich spreche und den   Dr. Dr. Weber in seinem Fleiß und in wahrhaft mühevoller Kleinarbeit in den Archiven unseres riesigen   …«
    »Oh bitte«, unterbrach Mayers. »Sagen Sie, was Sie wissen.«
    Es war dem Professor anzusehen, dass er diese Unterbrechung als Akt der Unhöflichkeit verstand. Sein helles Kinnbärtchen zitterte vor Empörung. Normalerweise hätte er sich ein solches Verhalten verbeten. Doch der guten Stimmung wegen, die bisher unter den dreien geherrscht hatte, wollte er über diese Entgleisung Mayers’ hinwegsehen. »Nun«, sagte er. »Um es kurz zu machen   …«
    » Ja?« Mayers spürte wieder einmal, dass Geduld nicht seine Stärke war.
    »Und weil Sie ja darauf bestehen.«
    »Bitte.«
    »Der Fall, den ich anspreche, liegt etwa eintausendzweihundert Jahre zurück.«
    Stille.
    Der Professor lächelte, während er in die völlig verdutzten Gesichter seiner Gastgeber blickte. Er liebte es, die Menschen mit Wissen vor den Kopf zu stoßen. Gerade dann, wenn seinen Zuhörern die nötigen Manieren fehlten.
    »Und   … da sind   … Sie sicher?«, hakte Mayers nach.
    Der Professor betonte jedes seiner Worte: »Die wunderbare Arbeit meines Kollegen   Dr. Dr. Weber lässt nicht einmal den geringsten Zweifel zu.«
    Tallwitz pfiff erneut durch die Zähne. »Zwölfhundert Jahre. Wow!«
    Professor Dattel fingerte an seiner Fliege herum, um sie exakt gerade zu richten. Dann lehnte er sich in seinem Stuhl zurück, faltete die Hände vor der Brust und begann erneut, eine Erklärung abzugeben: »Dr.   Dr. Weber befasste sich mit der Entstehung eines der ältesten Gebäude unserer Stadt. Er durchforstete die Dokumente und Urkunden des frühen Mittelalters. Ich denke, Ihnen ist bekannt, dass unsere Stadt seit über fünfzehnhundert Jahren besteht.   Dr. Dr.   Weber arbeitete sich in mühsamer Fleißarbeit, wie ich bereits andeutete, durch Listen von Steueraufzeichnungen, Gesetzesschriften, Pamphleten unzufriedener Bürger, Aufrufe der Herrschenden, Unterlagen zu Eheschließung und Begräbnissen. Sie ahnen nicht, wie viel sich finden lässt, wenn man wirklich einmal richtig forscht. Und Dr.   Dr.   Weber war ein Meister seines Faches, das können Sie mir glauben.«
    Mayers wagte eine Zwischenfrage. Seine Ungeduld zwang ihn dazu. »Was genau hat er entdeckt, das unserem Fall ähnelt?«
    Dattel griff nach dem Ordner, den er neben seinen Stuhl gestellt hatte, legte ihn auf seine Knie und ließ dann seine ausgestreckten Hände darauf ruhen. »Hierin befindet sich eine Urkunde, die Sie interessieren wird. Sie dokumentiert genauestens die Entstehung des betreffenden Gebäudes unserer Stadt. Denn dieses Bauwerk wurde errichtet, nachdem ein Zwischenfall glücklich geendet war, der Ihrem Kriminalfall sehr ähnelt. Ich darf berichten: Es war um 860 nach Christus, eben frühes Mittelalter. Unsere Stadt glich einem größeren Dorf. Der Vorteil war, dass es so nahe am Meer lag. Insofern war es leicht, Handel zu treiben. Schnell entwickelte sich der kleine Ort zu einem Umschlagplatz für Handelsschiffe. Die Stadtrechte wurden uns sehr früh   …«
    Mayers wagte einen erneuten Vorstoß. Er war sich im Klaren, dass der Professor wieder dabei war, abzuschweifen. »Was genau geschah um 860?«
    Das