Sichelmond
schmerzte. Er fühlte sich erschöpft. Er keuchte. Sein Herz raste.
Rouven hatte sich zu einem Moment gebracht, in dem er körperlich ausgezehrt war, in dem seine Gefühle aber hochpeitschten. Er fühlte Wut in sich. Abscheu.
Tränen liefen über sein Gesicht.
Und endlich, endlich bildete sich vor seinen Augen ein Bild des Moments, der ihm so wichtig war, dass er die Stimme hierhergeführthatte. Dies sollte der entscheidende Moment in seinem Leben sein. Seinem sehr langen Leben, wie er nun wusste.
Er sah sich auf der Erde knien, auf einer Wiese. Neben sich erstreckte sich eine Wand. Eine graue Wand aus Bruchsteinen. Darin eingefasst nahm Rouven ein buntes Fenster wahr. Doch nur beiläufig. Er interessierte sich nicht für den Ort, an dem er sich befand. Er konzentrierte sich auf die gigantischen Gefühle, die sein ganzes Wesen einnahmen.
Rouven kniete an dieser Wand, blutend und mit donnerndem Herzen. Er schrie. Ein Verzweiflungsschrei, tief aus ihm heraus. Eine Welle des Protestes gegen das, was in ihm vorging, und gegen das, was geschehen war.
Er hörte die Stimme. Diese Stimme der Wut und des Hasses, wie sie noch immer auf ihn einschrie. Jemand stand neben Rouven und brüllte ihn an. Doch Rouven hatte keinen Blick für ihn übrig. Aus den Augenwinkeln heraus konnte er nur den Huf eines Stieres sehen, der neben ihm stand. Flammen züngelten daraus hervor. Er vernahm das laute Schnalzen einer Zunge.
Doch Rouven blickte nicht auf. Er wollte seinen Gegner nicht sehen, denn all seine Blicke galten dem Menschen, der auf seinen Knien lag: Tabitha. Rouven hielt Tabitha in den Armen.
Er umklammerte sie. Er weinte um sie. Er schrie um sie.
Gerade hauchte sie ihr Leben aus. Ströme von Blut schossen ihr aus der Brust. Aus der Stelle, an der sich bis vor wenigen Momenten noch ihr Herz befunden hatte. Bevor es ihr aus dem Körper gerissen worden war.
Rouven hielt Tabitha im Arm, machtlos, etwas gegen ihr Sterben zu unternehmen. Er schrie dagegen an. Er wollte alles rückgängig machen. Er konnte sie nicht gehen lassen. Er brauchte sie hier. Er wollte sie hier, an seiner Seite. In seinem Leben.
Doch sie ging. Schon erschlaffte ihr Körper. Schon verloren ihre Augen ihren Glanz.
Und Rouven schrie seine Trauer in die Nacht hinaus.
Hinter ihm wurde das Brüllen lauter. Er hörte die Stimme seines Gegners wieder. Und die Worte, die er Rouven entgegenschmetterte: »Deine Schuld!«, schrie der andere ihn an. »Sie ist deinetwegen gestorben! Du hättest sie retten können!«
Rouven drückte Tabitha fest an sich. Ja, es stimmte. Es war seine Schuld. Er hatte versagt. Er hatte sie auf dem Gewissen. Sie war seinetwegen gestorben, und es gab nichts, was er nun dagegen tun könnte.
»Tot!«, schrie die hasserfüllte Stimme hinter ihr. »Durch deine Hand. Damit wirst du nun leben müssen!«
Und Rouven schrie.
Schrie.
Schrie.
Er schlug um sich.
Und schrie.
Er hörte die Stimme nicht, die er hierhergeführt hatte.
Er schrie.
Er hörte nicht, wie er gerufen wurde. Von ihr. Von ihrer Stimme, die nun nicht mehr sanft mit ihm sprach.
Doch Rouven schrie.
Und schlug weiter um sich.
Bis er spürte, dass er sich nicht mehr neben der Kapelle mit dem Fensterbild befand.
Bis er sah, dass der brennende Stierhuf nicht mehr neben ihm stand.
Bis ihm klar wurde, dass er in Mathidas Haus war. In ihrem Sessel. Und dass er wie wild um sich schlug.
Er öffnete die Augen, und da stand sie: Mathida. Mit vor Schreck weit geöffneten Augen. Sie sprach auf ihn ein. Sie versuchte seine Hände zu ergreifen. Ihn zu beruhigen.
Doch wie hätte sich Rouven beruhigen sollen? Mit den Bildern, die er gerade gesehen hatte! Und mit dem Wissen, dass er …
Tabitha!
Sie erschien hinter Mathida und schaute entsetzt auf Rouven. Sie war voller Sorge um ihn.
Rouven sprang auf. Er blickte Tabitha an, das Gesicht tränenüberströmt, das Herz noch immer donnernd in seiner Brust.
Donnernd aus Wut.
Donnernd aus Verzweiflung.
Er fiel vor Tabitha auf die Knie. »Es tut mir leid!«, rief er aus und umfasste ihre Beine. »Es tut mir alles so leid. Tabitha …!«
Und bevor sie irgendetwas sagen konnte, sprang er auf die Füße und flüchtete aus dem Raum. Er rannte aus dem Haus.
Er musste weg von hier.
Weg.
Er rannte.
Und brüllte immer wieder ihren Namen. Den Namen des Menschen, den er liebte. Den Namen des Menschen, dessen Leben ihm mehr wert war als sein eigenes.
Und für dessen Tod er verantwortlich war.
Tabitha.
S ag mal, wo warst du
Weitere Kostenlose Bücher