Sichelmond
der Segel beobachtete. Er blickte stolz auf die Crew. Und Rouven wusste, dass es seine Crew war. Er war sicher, dass der Mann neben ihm der Kapitän dieses Schiffes war. Und mit gleicher Bestimmtheit wusste Rouven auch, dass dieser Mann sein Vaterersatz war.
»Ach, dieses Schiff«, hörte Rouven den Kapitän plötzlich aussprechen. »Es wird den Schiffsverkehr revolutionieren, hörst du? Von dieser Royal Prince wird man noch in Jahrhunderten sprechen. Glaub mir das. Ein neues Zeitalter bricht an. Dieses 16. Jahrhundert ist ein Meilenstein der Geschichte. Und du und ich – wir beide – mittendrin. Sei stolz, mein Junge. Sei stolz!«
Rouven lachte den Mann an. Er war stolz. Wieder berichtete er der Stimme, die ihn hierhergeführt hatte, in allen Einzelheiten, waser sah. Und als die Frage nach der Jahreszahl kam, auf die er schon gewartet hatte, konnte er blitzschnell antworten: »16. Jahrhundert.«
Wieder verstummte die Stimme. Und in Rouven keimte der Verdacht, dass sie diese Jahreszahlen für unmöglich hielt. Für ihn allerdings war das alles in Ordnung so. Er wusste, dass alles seine Richtigkeit hatte. Dass all diese Bilder sein Leben zeigten und die Wirklichkeit wiedergaben, so wie Rouven sie erlebt hatte. Auch diese Stadt, in deren Hafen sie gerade einfuhren und auf deren Straßen Rouven blickte, entsprach der Wirklichkeit. Auch sie war Teil seiner Vergangenheit. Diese Häuser und auch die kleine Kapelle, die am Ende der einen Straße, dicht an diesem Hafen, zu sehen war. Ein wunderschönes kleines Gebäude. Aus Bruchsteinen errichtet. Von hier aus erblickte Rouven die Rückwand der Kapelle. Er sah das Kapellenfenster, das so groß war, dass es beinahe die gesamte Rückwand der Kapelle ausfüllte. Es war ein wunderbares Fenster. Man hatte es bemalt. Und gerade jetzt, wo scheinbar die Tür der Kapelle offen stand und das Sonnenlicht den Innenraum durchflutete, schien das Fenster zu leuchten. So sehr, dass Rouven von hier aus die Motive klar erkennen konnte. Die Mondsichel, die sich an der oberen Ecke befand, mit einer kräftigen Vogelkralle darunter. Die Figuren darunter waren in einen Kampf verwickelt. Ihre Hände waren ineinandergekrallt. Eine dieser Figuren hatte Flügel an ihrem Rücken – Vogelflügel. Ihre Füße waren Vogelkrallen. Mit einer dieser Krallen drückte sie einen Mann auf den Boden, der versuchte, sich zu wehren. Rouven staunte, als er sah, dass man diesem Mann ein stierähnliches Gesicht gezeichnet hatte.
Er hätte gern zu ergründen versucht, was dies alles bedeutete. Auch hätte er der Stimme gern von seinen Beobachtungen berichtet, doch sie kam ihm zuvor.
»Rouven«, hörte er sie sprechen. »Ich habe eine Bitte an dich. Du bist nun meiner Stimme gefolgt, durch die Zeit. Durch deine Leben. Nun bitte ich dich, mich zu führen. Höre auf dich selbst, und geleite mich zu einem Ort, an dem du sein möchtest. Gehe zu einem Zeitpunkt, der für dich wichtig war. Der dein Leben bestimmt hat. Es vielleicht sogar verändert hat. Führe mich zu der bisher wichtigsten Situation in deinem Leben. Schaffst du das? Möchtest du das?«
Rouven zögerte keine Sekunde. »Ja, sehr gern.« Für diese freundliche Stimme hätte er alles getan. Er wollte ihr diesen Wunsch erfüllen. Und so gab er sich Mühe, diesen für ihn wichtigen Moment in seinem Leben zu finden.
Zunächst verschwamm das Bild des Hafens und der Stadt vor seinen Augen. Die frische Brise, die ihm auf dem Schiff ins Gesicht geweht hatte, verschwand. So wie das gesamte Deck des Schiffes und auch der Kapitän an Rouvens Seite. Ein leerer Raum entstand. Rouven befand sich inmitten eines dunklen Nichts.
Er dachte nach. Angestrengt. Er wollte in seiner Erinnerung fischen, doch es entstanden keine Bilder vor seinen Augen. Und so konzentrierte er sich auf seine Gefühle. Die Stimme wollte ihn an dem wichtigsten Punkt seines Lebens haben. An einem Entscheidungspunkt. Also richtete Rouven all sein Denken, all seine Konzentration nur darauf. Er forschte, wo in ihm ein Gefühl verborgen war, das einem solchen großen Moment entsprach. Und mit einem Mal stellten sich Geräusche ein. Jemand sprach zu ihm. Aber es war nicht die wunderbare Stimme, mit der er sich auf Wanderung befand. Nein, diese Stimme war tiefer. Männlich. Und sie sprach mit enormer Wut, geradezu hasserfüllt.
Gerüche stellten sich ein. Auch weitere Klänge. Schreie von Menschen. Entsetzensschreie. Rouven schmeckte plötzlich Blut in seinem Mund. Sein ganzer Körper
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