Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Sie

Sie

Titel: Sie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henry Rider Haggard
Vom Netzwerk:
auf lateinisch ›Löwe‹. Den Namen hat der Alte gut gewählt.
    Seltsam«, fuhr sie fort, als spräche sie zu sich selbst, »höchst seltsam. Diese Ähnlichkeit – doch das ist unmöglich!« Mit einer ungeduldigen Geste strich sie wieder über das Wasser. Es verdunkelte sich, und geheimnisvoll, wie es entstanden war, verschwand das Bild, und nur noch das Licht der Lampe war auf der Oberfläche dieses klaren lebenden Spiegels zu sehen.
    »Hast du noch eine Bitte, bevor du gehst, o Holly?« sagte sie nach kurzem Nachdenken. »Das Leben hier muß für euch sehr unbequem sein, denn diese Menschen sind Wilde und wissen nichts von der Lebensart kultivierter Menschen. Mir macht das nichts aus, denn meine Nahrung«, sie deutete auf die Früchte auf dem kleinen Tisch, »besteht nur aus Früchten. Nichts als Früchte kommt über meine Lippen – Früchte, Kuchen und ein wenig Wasser. Ich habe meinen Mädchen befohlen, euch zu bedienen. Sie sind, wie du weißt, stumm, stumm und taub, und deshalb die zuverlässigsten Diener, wenn man in ihren Gesichtern lesen kann und ihre Zeichen versteht. Ich habe sie mir so gezüchtet – es hat Jahrhunderte gedauert und viele Mühe gekostet; doch schließlich ist es mir gelungen. Es gelang mir früher schon einmal, doch die Rasse war gar zu häßlich, und deshalb ließ ich sie aussterben; heute sind sie, wie du siehst, recht annehmbar. Auch ein Geschlecht von Riesen habe ich schon einmal herangezogen, doch nach einer Weile tat die Natur nicht mehr mit, und sie gingen ebenfalls unter. Nun sag schon, hast du irgendeinen Wunsch?«
    »Ja, einen, o Ayesha«, entgegnete ich kühn, obwohl ich mich alles andere als kühn fühlte. »Ich möchte dein Gesicht sehen.«
    Sie ließ ihr glockenhelles Lachen hören. »Überlege dir das, Holly«, antwortete sie. »Du kennst doch sicher die alten Göttersagen Griechenlands. Erinnerst du dich an Aktäon, der elend zugrunde ging, weil er zuviel Schönheit erblickte?
    Wenn ich dir mein Gesicht zeige, wirst vielleicht auch du elend zugrunde gehen; es kann sein, daß ohnmächtiges Verlangen dein Herz verzehren wird, denn du mußt wissen: Ich bin nicht für dich – ich bin für keinen Mann, außer einen, der einst war, doch noch nicht wieder ist.«
    »Wie du willst, Ayesha«, sagte ich. »Ich fürchte deine Schönheit nicht. Eitle Frauenschönheit, die vergeht wie eine Blume, kann mich nicht verwirren.«
    »Du irrst«, sagte sie, »sie vergeht nicht. Meine Schönheit bleibt, solange ich bin. Doch du sollst deinen Willen haben, vorwitziger Mann. Tadle mich aber nicht, wenn Leidenschaft deine Vernunft besiegt. Ein Mann, der meine Schönheit einmal nur gesehen, kann sie nie vergessen; deshalb verhülle ich mich sogar vor diesen Wilden, damit sie mich verschonen und ich sie nicht töten muß. Nun sag, willst du mich sehen?«
    »Ich will«, erwiderte ich, von Neugier überwältigt. Da hob sie ihre weißen runden Arme – noch nie hatte ich solche Arme gesehen – und löste langsam, ganz langsam ein Band unter ihrem Haar. Dann fiel plötzlich der lange leichentuchähnliche Schleier zu Boden, und mein Blick wanderte an ihr empor, die jetzt nur noch ein weißes enganliegendes Gewand trug, das ihre makellose königliche Gestalt noch mehr hervorhob, eine Gestalt, beseelt von einem Leben, das mehr als Leben war, und erfüllt von einer schlangenhaften Anmut, die mehr als menschlich war. An ihren kleinen Füßen trug sie Sandalen, befestigt mit goldenen Knöpfen. Dann kamen ihre Knöchel, vollkommener, als sie je ein Bildhauer erträumte. Um die Taille war ihr Kleid von einer doppelköpfigen Schlange aus purem Gold umgürtet, und darüber schwoll ihre Gestalt in Linien an, die ebenso rein wie lieblich waren, bis das Kleid auf dem schneeigen Silber ihrer Brust endete, über der sie ihre Arme verschränkte. Mein Blick wanderte nun empor zu ihrem Gesicht, und ich zuckte – ich übertreibe nicht – wie geblendet zurück. Ich hatte von der Schönheit himmlischer Wesen gehört – nun sah ich sie; doch diese Schönheit war trotz all ihrer unsagbaren Lieblichkeit und Reinheit dämonisch – zumindest erschien sie mir in jenem Augenblick so. Wie soll ich sie schildern? Ich kann es nicht – kann es ganz einfach nicht! Den Mann, der das, was ich sah, auch nur annähernd beschreiben könnte, gibt es nicht. Ich könnte reden von den großen schillernden tiefschwarzen Augen, von ihrer zarten Haut, von ihrer breiten, edlen Stirn, von ihren holden, ebenmäßigen Zügen. Doch so

Weitere Kostenlose Bücher