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Titel: Sie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henry Rider Haggard
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nicht erinnern konnte. Der Gedanke erschien mir so komisch, daß ich laut auflachte und dem Bild eines düster dreinblickenden Kriegers an der Wand zurief: »Wer weiß, alter Bursche? – vielleicht war ich dein Zeitgenosse. Bei Jupiter! vielleicht war ich du, und du bist ich«, und ich lachte wieder laut über meine Verrücktheit, und das Echo hallte unheimlich von der gewölbten Decke zurück, als erwidere der Geist des Kriegers mein Lachen.
    Dann fiel mir ein, daß ich noch nicht nach Leo gesehen hatte, und so nahm ich eine der Lampen, die neben meinem Lager brannten, streifte meine Schuhe ab und kroch durch den Gang zum Eingang seiner Kammer. Der Luftzug bewegte leise den Vorhang, als zupften Geisterhände daran. Ich schlüpfte in das gewölbeähnliche Gemach und blickte mich um. Es brannte eine Lampe, und in ihrem Schein sah ich, daß Leo schlafend, doch sich ruhelos in seinem Fieber herumwälzend, auf seinem Bett lag. Neben ihm, halb auf dem Boden liegend, halb an das Bett gelehnt, ruhte Ustane. Sie hielt seine Hand in der ihren und schlummerte ebenfalls, und die beiden boten ein hübsches, sehr rührendes Bild. Armer Leo! Seine Wange war glutrot, unter seinen Augen lagen dunkle Schatten, und er atmete mühsam. Er war sehr, sehr krank; und wieder packte mich die schreckliche Angst, er könnte sterben und mich allein zurücklassen. Doch wenn er am Leben bliebe, würde er womöglich bei Ayesha mein Nebenbuhler werden; selbst wenn er nicht jener Mann war – welche Aussichten hatte ich häßlicher Mann gegen seine strahlende Jugend und Schönheit? Doch dem Himmel sei Dank, meine Redlichkeit war noch nicht erstorben. ›Sie‹ hatte sie noch nicht getötet; und als ich so dastand, betete ich zum Allmächtigen, daß mein Junge, den ich mehr liebte als einen Sohn, am Leben bleiben möge – selbst wenn er dieser Mann sein sollte.
    Dann schlich ich ebenso leise, wie ich gekommen war, zurück, doch ich fand immer noch keinen Schlaf, und der Anblick des so elend darniederliegenden Leo hatte meine Unruhe nur noch gesteigert. Mein erschöpfter Körper und mein überreizter Geist spornten meine Phantasie zu unnatürlicher Tätigkeit an. Gedanken, Bilder, ja fast Inspirationen stiegen mit erstaunlicher Lebendigkeit in mir auf. Die meisten waren überaus grotesk, einige unheimlich, und andere lösten Gedanken und Gefühle in mir aus, die jahrelang in den Tiefen der Vergangenheit begraben waren. Doch hinter und über allem schwebte die Gestalt dieses furchtbaren Weibes, glomm die Erinnerung an ihre hinreißende Schönheit. Auf und nieder schritt ich in meiner Kammer – auf und nieder.
    Plötzlich bemerkte ich etwas, das mir bis jetzt entgangen war: in der Felswand war eine schmale Öffnung. Ich hob die Lampe auf und untersuchte sie. Die Öffnung führte in einen Gang. Nun war ich immer noch hinreichend bei Vernunft, um mir zu sagen, daß es in einer Situation wie unserer nicht gerade angenehm war, wenn ein Gang, von dem man nicht wußte, woher er kam, in die Kammer führte, in der man schläft. Durch einen solchen Gang können ja, während man schlummert, Leute kommen. Teils, um zu sehen, wohin er führte, teils getrieben von einem unruhigen Verlangen, irgend etwas zu unternehmen, folgte ich dem Gang. Er führte zu einer steinernen Treppe, die ich hinunterstieg; die Treppe endete in einem anderen Gang oder besser Tunnel, der gleichfalls aus dem Fels herausgeschlagen war und nach meiner Schätzung genau unter dem Gang verlief, der zu unseren Kammern und durch die große Haupthöhle führte. Ich schritt durch ihn weiter. Grabesstille herrschte in ihm, und auch meine nur bestrumpften Beine machten auf – dem glatten, festen Felsboden kein Geräusch. Nach etwa fünfzig Metern stieß ich auf einen rechtwinklig verlaufenden Quergang, und an dieser Stelle geschah etwas Schreckliches. Der scharfe Luftzug traf meine Lampe und löschte sie aus, so daß ich an diesem unheimlichen Ort in völliger Finsternis stand.
    Ich machte einige weitere Schritte geradeaus, um nicht in den Quergang zu geraten und mich zu verirren, und blieb dann stehen, um nachzudenken. Was sollte ich tun? Ich hatte keine Zündhölzer bei mir, und der Gedanke, mich durch die völlige Finsternis diesen langen Gang zurückzutasten, war mir entsetzlich. Doch konnte ich auch nicht die ganze Nacht hier stehenbleiben, und selbst wenn ich dies tat, würde es mir nicht helfen, denn im Innern des Felsens war es zu Mittag sicherlich ebenso finster wie um Mitternacht. Ich

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