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Titel: Sie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henry Rider Haggard
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sie sind fast alle vollkommen erhalten.«
    Vor der Plattform hatte sich eine große Anzahl Menschen beiderlei Geschlechts versammelt, die in ihrer unheimlichen finsteren Art, die selbst den größten Witzbold binnen fünf Minuten in einen Trauerkloß verwandelt hätte, vor sich hinstarrten. Auf der Plattform stand ein massiver Stuhl aus Ebenholz mit Elfenbeinintarsien mit einem aus Grasfasern geflochtenen Sitz, an dem eine Fußbank aus Holz befestigt war.
    Plötzlich ertönte der Ruf »Hiya! Hiya!« (»Sie! Sie!«), worauf die ganze Zuschauerschar sich zu Boden warf und regungslos, als ob sie alle der Schlag getroffen hätte, liegenblieb. Nur ich blieb stehen, als sei ich der einzige Überlebende eines Massakers, Gleich darauf trat eine lange Reihe von Wächtern aus einem Gang zur Linken und nahm beiderseits der Plattform Aufstellung. Dann folgten etwa zwanzig stumme Männer und ebenso viele stumme Frauen, die Lampen in den Händen trugen, und schließlich eine schlanke weiße, von Kopf bis Fuß verhüllte Gestalt, in der ich ›Sie‹ erkannte. Sie bestieg die Plattform, nahm auf dem Stuhl Platz und richtete in griechischer Sprache das Wort an mich – vermutlich, damit die anderen Anwesenden sie nicht verstanden.
    »Komm zu mir, o Holly«, sagte sie, »setze dich zu meinen Füßen nieder und sieh zu, wie ich jene richte, die dich erschlagen wollten. Verzeih mir, wenn mein Griechisch hinkt wie ein Lahmer; es ist so lange her, seit ich es hörte, daß meine Zunge steif geworden ist und sich den Worten nicht recht fügen will.«
    Ich verneigte mich, stieg auf die Plattform und setzte mich zu ihren Füßen nieder.
    »Wie hast du geschlafen, mein Holly?« fragte sie.
    »Nicht gut, o Ayesha«, erwiderte ich wahrheitsgetreu und mit der inneren Befürchtung, sie wüßte vielleicht, wie ich die Mitternachtsstunde verbracht hatte.
    »So«, sagte sie mit leisem Lachen. »Auch ich habe nicht gut geschlafen. Ich hatte letzte Nacht Träume, und mir scheint, du hast sie mir geschickt, o Holly.«
    »Wovon hast du geträumt, Ayesha?« fragte ich gleichmütig.
    »Ich träumte«, entgegnete sie rasch, »von einem, den ich liebe, und von einer, die ich hasse«, und dann wandte sie sich, das Gespräch abbrechend, an den Hauptmann ihrer Leibgarde und sagte auf arabisch: »Laß die Männer vor mich bringen.«
    Der Hauptmann verneigte sich tief – die Wächter und ihre Bedienten hatten sich nicht zu Boden geworfen, sondern waren stehen geblieben – und verschwand mit seinen Untergebenen in einem Gang zur Rechten.
    Tiefes Schweigen herrschte. ›Sie‹ stützte den verschleierten Kopf auf die Hand und schien in Gedanken versunken, während die Menge vor ihr auf den Bäuchen liegenblieb und nur hin und wieder einer den Kopf ein wenig hob, um einen verstohlenen Blick auf uns zu werfen. Anscheinend zeigte sich ihre Königin ihnen so selten, daß sie diese Unbequemlichkeit und noch größere Gefahren gern auf sich nahmen, um sie einmal anzusehen, oder besser ihr Gewand, denn kein Lebender außer mir hatte je ihr Gesicht geschaut. Endlich tauchten aus dem Gang Lichter auf, und man hörte Männerschritte; gleich darauf erschien die Leibgarde mit den Überlebenden unserer Angreifer, etwa zwanzig an der Zahl, auf deren Gesichtern der von Natur aus düstere Ausdruck mit der Angst kämpfte, die anscheinend ihre Herzen erfüllte. Sie traten vor die Plattform und schickten sich an, sich gleich den Zuschauern auf den Boden zu werfen, doch ›Sie‹ sagte im sanftesten Ton:
    »Nein, bleibt stehen; ich bitte euch, bleibt stehen. Vielleicht wird bald die Zeit kommen, da ihr des langen Liegens müde seid«, und sie lachte melodisch.
    Ich sah, wie ein Schauder des Entsetzens die verdammten Kreaturen durchzuckte, und Mitleid mit ihnen erfüllte mich, so üble Schurken sie auch waren. Zwei oder drei Minuten vergingen, ohne daß etwas geschah. Nach der Bewegung ihres Kopfes zu schließen – die Augen konnten wir ja nicht sehen – schien sie jeden einzelnen Missetäter langsam und sorgfältig zu mustern.
    Endlich fragte sie mich in ruhigem, festem Ton: »Erkennst du, o mein Gast, diese Männer?«
    »Ja, o Königin, ich erkenne sie fast alle«, sagte ich und bemerkte, wie sie mich wütend anstarrten.
    »Dann berichte mir und dieser großen Versammlung, was geschehen ist.«
    Ich kam dieser Aufforderung nach und erzählte mit möglichst wenig Worten von dem Kannibalenfest und dem Versuch, unseren armen Diener auf qualvolle Weise zu töten. Mein Bericht wurde

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