Sie haben mich verkauft
war. Es war endlich an der Zeit, mit dem Angsthaben aufzuhören.
Mein Herz schlug wild, als das Freizeichen des Telefons ertönte.
»Ja?«, hörte ich eine Stimme.
»Hallo«, sagte ich. »Hier spricht Oxana Kalemi. Ich würde gern mit meinem Sohn Sascha Kalemi und meiner Tochter Luda Kalemi sprechen.«
»Ja, gut. Einen Moment bitte, ja?«
Ich hörte, wie der Hörer hingelegt wurde und wie sich Schritte einen hallenden Flur entlang entfernten. Am anderen Ende der Leitung vernahm ich Stimmen, Rufe und Lachen von Kindern. Ira hatte mir vor ein paar Tagen endlich die Nummer des Waisenhauses besorgt, in dem Sascha und Luda jetzt wohnten. Bald hörte ich Schritte, die sich dem Telefon wieder näherten.
»Hallo?«, ertönte eine ängstliche Stimme.
Sascha.
»Ich bin es«, antwortete ich.
»Mama!«, rief er.
»Ja, mein Liebling. Ich konnte nicht eher anrufen, aber ich bin ja so froh, dass es jetzt möglich ist. Wie geht es dir?«
»Okay.« Seine Stimme klang ganz gedrückt.
»Wirklich?«
»Ja.«
Wir schwiegen einen Moment.
»Wieso bist du weggelaufen?«, fragte ich sanft. »Du kannst doch deine Schwester nicht so mitnehmen und Geld stehlen. Ich verstehe das nicht. Warum hast du das gemacht?«
»Wir haben dich vermisst, Mama«, sagte Sascha, und seine Stimme überschlug sich fast. »Wir wollten dich besuchen, und ich dachte, wenn wir bloß genug Geld hätten, könnten wir in ein Flugzeug steigen und nach England fliegen.«
Tränen schnürten mir die Kehle zusammen. »Ach, Sascha«, flüsterte ich. »Ich vermisse dich auch, aber du darfst doch kein Geld nehmen, das dir nicht gehört.«
»Ich weiß, Mama. Es tut mir leid.«
»Na ja, jetzt ist es eben passiert, und ich will dich nicht anschreien, aber du musst mir versprechen, dass du nie wieder so etwas machst.«
»Ja, versprochen.«
»Und was bekommt ihr im Heim nun so zu essen? Habt ihr was zum Anziehen?«
»Ja. Ira und Tamara sind gekommen und haben uns Kleider gebracht, und das Essen ist gut – wir bekommen Rindfleischeintopf mit Kartoffeln und Tee mit Zucker.«
»Gefällt es dir da?«
»Ja, Mama. Ist ganz prima hier. Bitte mach dir keine Sorgen.«
»Dann ist ja gut, mein Liebling.« Ich hörte eine Stimme im Hintergrund.
»Luda will mit dir sprechen. Rufst du wieder an?«
»Natürlich. Von jetzt an alle zwei Wochen, versprochen.«
»Tschüss, Mama.«
»Tschüss, Sascha.«
Ich hörte Schluchzer, als Luda den Hörer nahm.
»Ich finde es schrecklich hier, Mama«, jammerte sie. »Ich will nicht im Heim sein.«
Mir drehte sich das Herz um, als ich ihre zarte Stimme hörte. »Ach, mein Liebling«, sagte ich leise. »Wieso gefällt es dir da denn nicht?«
»Weil ich hier keinen kenne. Kommst du uns bald holen, Mama?«
»Sobald ich kann. Ich lerne Englisch, und ich arbeite sehr fleißig in der Schule. Jeden Tag, wenn ich nach Hause komme, lese ich immer noch weiter in meinen Büchern, damit ich so viel wie möglich lerne. Siehst du, wenn ich eine gute Engländerin bin, bekomme ich Papiere und kann hierbleiben; und sobald das so weit ist, könnt ihr auch kommen und bei mir wohnen.«
»Ehrlich?«, rief sie. »In England?«
»Ja.«
»Aber werden die Leute dir das auch wirklich erlauben?«
Ich holte tief Luft. »Ja, das werden sie. Ich sorge dafür, dass sie das tun werden, und dann werde ich Pascha finden, damit wir alle zusammen sein können. Wir vier werden wieder eine richtige Familie sein.«
»Ich kann es kaum erwarten, Mama«, flüsterte Luda.
»Ich auch nicht, mein Liebling. Ich auch nicht.«
EPILOG
A n meiner Wand hängen vier kleine Bilder, die ich einmal in einer Mülltonne gefunden habe. Jemand hat sie weggeworfen, aber ich finde sie wunderschön. Es sind ganz kleine Ölgemälde, und wenn sie auch alle völlig verschieden sind, zeigen sie doch dasselbe Motiv – ein Haus unter einem blauen Himmel, eine grüne Wiese und Blumen an einem Bach. Eines Tages werde ich mit meinen Kindern in solch einem Haus leben.
Vier Jahre ist es nun her, dass ich Sascha und Luda dieses Versprechen gab, und manchmal fühlt es sich an wie hundert Jahre. Die Zeit hat die Eigenart, sich zu verlangsamen, wenn man auf etwas wartet, das man mehr als alles sonst auf der Welt will.
Ich habe mir Mühe gegeben, die Zeit vergehen zu lassen, indem ich sie gut nutzte. Mit Hilfe der Leute vom Poppy Project bin ich wieder zur Schule gegangen. Da ich hart gearbeitet habe, konnte ich nach sechs Monaten Prüfungen ablegen, für die andere ein ganzes Jahr brauchten.
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