Sie haben mich verkauft
Sicherheit, endlich.
Ich seufzte, drehte mich um und schlief sofort wieder tief ein.
Auch wenn ich mich an einem Zufluchtsort befand, hatte ich doch ständig Angst. Ich begriff kaum, wo ich war und was jetzt mit mir passieren sollte. Ich befand mich nach wie vor in den Händen anderer Leute, hatte nicht die Kontrolle über mein eigenes Leben. Ich konnte nur darauf hoffen, dass man mir helfen würde.
Am nächsten Tag kam Sally wieder, am Tag darauf auch. Nach und nach erklärte sie mir, was es mit dem Poppy Project auf sich habe und wie man mir dadurch helfen könne.
»Wir kümmern uns speziell um Frauen, die von Mädchenhändlern in dieses Land verschleppt und zur Prostitution gezwungen wurden. Wir sorgen für Unterkunft und Unterstützung, und wir können Ihnen helfen, wenn Sie hierbleiben wollen.«
»Ich will hierbleiben«, sagte ich schnell.
»Dann wird unser erster Schritt sein, Ihnen zu helfen, Asyl zu beantragen«, sagte sie. »Ich weiß ja nicht, was Ihre Anwältin getan hat, aber über Sie gibt es keine Unterlagen in der Einwanderungsbehörde. Wir kennen Leute, die Sie vertreten würden. Es ist ein langwieriger Prozess, doch wir werden dafür sorgen, dass Sie die bestmögliche Hilfe bekommen.«
»Werde ich hier im Land bleiben dürfen?«
»Das können wir nicht mit Bestimmtheit sagen. Keiner kann das. Aber wir hoffen es.«
»Was muss ich dafür tun?«
»Nichts. Aber Sie könnten überlegen, ob Sie uns vielleicht bei der Zusammenarbeit mit den hiesigen Behörden helfen würden. Wir wollen diesen furchtbaren Mädchenhandel stoppen, und wenn Sie uns erzählen, was mit Ihnen geschehen ist und wie, könnte damit womöglich verhindert werden, dass einer anderen das Gleiche passiert. Jetzt im Moment müssen Sie nichts tun – denken Sie einfach darüber nach.«
Die Vorstellung, den Behörden die Wahrheit zu erzählen, war beängstigend – wenn sie herausfanden, was für schreckliche Dinge ich getan hatte, würden sie mich ganz bestimmt wegschicken. Aber Sally übte keinerlei Druck auf mich aus.
»Denken Sie einfach darüber nach. Vielleicht sind Sie ja eines Tages bereit dazu.«
Während der ersten Wochen in meinem Zufluchtsort erfuhr ich alles über Poppy, und die Leute von Poppy erfuhren alles über mich. Es war schwer für mich, jemandem zu trauen, nach allem, was mir passiert war, aber allmählich fasste ich Vertrauen zu Sally. Sie tat viel für mich: Sie brachte mich zu einem Arzt und zu einem Zahnarzt, der sich um meine schlechten Zähne kümmerte; in der Ukraine hatte ich immer zu große Angst vor dem Zahnarzt gehabt, denn ein kostenloser Termin bedeutete eine Behandlung ohne Betäubung, und den Arzt zu bezahlen konnte ich mir nicht leisten. Sie erklärte mir auch, dass bei Poppy ausgebildete Leute arbeiteten, die sich Berater nannten, und denen konnte ich meine Geschichte erzählen, wenn ich dazu bereit war. Ich konnte auch den Antrag stellen, zur Schule zu gehen, während ich auf den Abschluss meines Asylverfahrens wartete, um Sprachkurse zu belegen und richtig Englisch zu lernen.
»Oh, das würde ich so gern tun!«, rief ich, als Sally mir davon erzählte. Was für herrliche Aussichten, richtig Englisch zu lernen! »Das will ich beantragen, unbedingt.«
»Na schön«, sagte Sally lachend. »Ich wünschte, alle Schüler wären so eifrig wie Sie.«
Die Tage vergingen, und ich begriff allmählich, dass das Poppy Project mir wirklich helfen konnte. Und so gewöhnte ich mich allmählich an mein neues Leben. Viele Stunden verbrachte ich mit Nachdenken, oder ich las Bücher aus einer russischen Bücherei, spazierte durch die Stadt und kaufte Lebensmittel auf dem Markt. Von London hatte ich bisher kaum etwas gesehen, auch wenn ich inzwischen schon lange hier war, und ich kannte die Stadt im Grunde gar nicht. Ich war weit weg von Tottenham, und so wagte ich mich gelegentlich an die Erkundung des Londoner East End. Doch die Außenwelt empfand ich als bedrohlich – die Stadt war so riesig und geschäftig, und ich wusste nie, ob mir nicht plötzlich Ardys Gesicht aus der Menge entgegenschauen würde. Abgesehen von gelegentlichen Besuchen bei Lara versteckte ich mich deshalb meist.
In diesen langen, einsamen Stunden dachte ich zurück an all das, was mit mir passiert war. Wie hatte ich das alles zulassen können? Ich musste schwach, antriebslos, dumm sein. Ich hatte mein Leben ruiniert und das meiner Kinder noch dazu. Morgens, wenn ich aufwachte, fühlte ich mich ängstlich und schämte
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