Sie haben mich verkauft
Genau wie früher war ich wieder die gute, brave Schülerin! Verzweifelt wünschte ich mir, arbeiten zu können, meinen Lebensunterhalt zu verdienen und etwas aus mir zu machen, damit meine Kinder stolz auf mich wären. Zusätzlich zu Englisch belegte ich Computer- und Betriebswirtschaftskurse und fand so eine Anstellung in einem Catering-Unternehmen. Endlich war ich unabhängig und verdiente eigenes Geld, das ich niemandem abgeben musste.
Doch alle Fortschritte konnten den Schmerz nicht betäuben, und diese Jahre waren nicht leicht für mich – obwohl sich vieles in meinem Leben zum Besseren veränderte, empfand ich nach wie vor Traurigkeit und Einsamkeit, und immer wieder ergriffen die Dämonen der Wut und Verzweiflung Besitz von mir – und das trotz all meiner Bemühungen, stark zu bleiben. Ich litt unter dem, was mit mir geschehen war, und natürlich litt ich auch unter der Trennung von meinen Kindern. Ich versuchte, den Schmerz mithilfe von Alkohol zu vergessen und in kurzen Beziehungen zu Männern, die mich jedoch nicht so lieben und trösten konnten, wie ich es brauchte. Ich trauerte Murat nach, dem einzigen Mann, der mich geliebt hatte, und ich litt bald unter chronischer Schlaflosigkeit und fand nur wenige Stunden in der Nacht Ruhe. Stattdessen lag ich auf dem Sofa und starrte auf den Fernseher, und ich schob den Moment hinaus, in dem ich ins Bett gehen und dem Teufel erlauben würde, in der Dunkelheit zu mir zu finden.
Nachts musste ich unaufhörlich an meine Vergangenheit denken – an die albtraumhafte Fahrt in einer Kiste auf einem Lkw, an eine Welt der Sklaverei und Erniedrigung, in der mir die Entscheidungen über mein Geschick aus der Hand genommen worden waren. Tagsüber ging ich durch die Straßen und überlegte, ob wohl einige der Frauen, die mir begegneten, in diesem Augenblick in solch einer Existenz steckten. Ich hoffte, nicht. Ich musterte Gesichter, um zu sehen, ob ich den vertrauten leblosen Ausdruck in den Augen wiedererkannte, den ich so oft bei mir selbst gesehen hatte.
Die schlimmste Phase kam im Juni 2004, als ich furchtbare Neuigkeiten erhielt: Die ukrainischen Gerichte hatten mir das Sorgerecht aberkannt, weil ich als Mutter abwesend war. In diesen Dingen kannte ich mich nicht aus; ich bekam keine Gelegenheit, mich zu verteidigen, und auf einmal gehörten meine Kinder nicht mehr mir. Nachdem ich das erfahren hatte,lag ich drei Tage im Bett, in der festen Überzeugung, dass ich nun keinen Grund mehr hatte, am Leben zu bleiben. Wie sollte ich je die Kinder zurückbekommen? Ich wusste nur zu gut, wie es in meinem Land ablief. Es gab einen endlosen Papierkrieg, und alles ging nur im Schneckentempo voran, es sei denn, man hatte Beziehungen oder bündelweise Geld, um den zuständigen Leuten einen Anreiz zu bieten. Organisationen, die Frauen wie mir dabei helfen konnten, ihre Kinder zurückzubekommen, gab es nicht.
Aber ich wusste, ich musste kämpfen. Ich war so weit gekommen und durfte mich nicht geschlagen geben. Außerdem musste ich ja mein Versprechen halten. Ich raffte mich auf, fand einen Anwalt und begab mich auf den langwierigen Weg, meine Kinder zurückzugewinnen. Manchmal stellten sich mir die zuständigen Behörden in den Weg, Leute weigerten sich, mir zu helfen, und es dauerte ewig, bis ich die Unterschrift auf nur einem einzigen Stück Papier erhielt. Ich fragte mich, ob ich je wieder eine Mutter sein würde. Aber ich kämpfte weiter, und vor Kurzem teilte mir mein ukrainischer Anwalt mit, dass das Ende in Sicht sei. Ich hoffe, dass ich innerhalb der nächsten Monate mit meinen Kindern wieder vereint sein werde.
Im Jahr 2005 passierten zwei wunderbare Dinge. An dem für mich schönsten Tag seit vielen Jahren gewährte man mir Asyl in Großbritannien. Endlich war ich wirklich in Sicherheit, und sobald man mir meine Kinder zurückgeben würde, würden sie zu mir nach England in eine freundlichere, bessere Zukunft kommen.
Doch mein glücklichster Augenblick war der, als ich Pascha wiederfand. Er war in einer Taubstummenschule für ältere Kinder in Simferopol untergebracht. Ich hatte solche Angst, wieder mit ihm in Kontakt zu treten, aber ich wusste, dass mein Herz mir nie gestattet hätte, meinen Sohn zu vergessen, und ich hoffte, bei ihm wäre es genauso. Das ersteMal seit etlichen Jahren konnte ich ihm schreiben, und bald bekam ich einen Antwortbrief von ihm.
»Hallo, meine liebe Mama«, schrieb er. »Ich lerne in vier verschiedenen Kursen, meine Lehrerin heißt
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