Sie haben mich verkauft
Larissa, und meine Betreuerinnen sind Nadia und Ludmilla. Ich lerne sprechen, lesen und schreiben. Ich mag meine Schule sehr gern, aber ich wünsche mir so sehr, zu dir nach Hause zu können. Ich liebe dich, ich küsse dich, dein dich liebender Sohn Pascha.«
Seine Handschrift war klar und stark, und seine Lehrerin hatte etwas hinzugefügt.
»Hallo, liebe Oxana«, schrieb sie. »Als Ihr Brief eintraf, war Pascha wirklich sehr, sehr glücklich. Er hat sich die Fotos angesehen, die Sie mitgeschickt haben, und dann hat er allen gezeigt, dass er Ihnen ähnlich sieht. Jetzt fragt er andauernd, wann er endlich nach Hause kann. Wir haben ihm erklärt, dass er noch ein kleines Weilchen warten muss. Er hat sich so sehr zum Besseren verändert – er lernt gut, und auch im Lesen und Schreiben ist er sicherer geworden. Er hat sehr darauf geachtet, in seinem Brief an Sie keine Fehler zu machen. Pascha ist ein sehr mitteilungsfreudiges und interessiertes Kind. Er kann gut zeichnen, bastelt gern mit Papier und ist sehr brav im Unterricht. Außerdem hat er viele Freunde, und alle wissen, wann er Geburtstag hat und feiern jedes Jahr mit ihm. Wir trinken dann Tee, essen Kuchen und basteln Karten für ihn. Ich wünsche Ihnen, Oxana, alles erdenklich Gute und hoffe, Sie können alles tun, was nötig ist, um Ihren Sohn zu sich zu holen. Aber fürs Erste wird Pascha stündlich auf Ihre Briefe warten.«
Ich weinte, als ich das las, küsste seinen Brief, lächelte und weinte wieder. Mein Sohn, der verschwunden war, ist gefunden.
♦♦♦
Ich weiß genau, dass ich all dies nicht erreicht hätte, gäbe es das Poppy Project nicht, und ich werde den Mitarbeitern des Projekts immer dankbar sein. Sie haben mich gerettet, als ich schon dachte, ich hätte endgültig alles verloren; sie gaben einem Leben Struktur, das auseinandergebrochen war, und sie begegneten einer Frau mit Freundlichkeit, die so lange so wenig gewusst hatte. Mit ihrer Hilfe konnte ich neu beginnen; im Dezember 2006 verließ ich das Haus, in dem sie mich untergebracht hatten, und zog in meine eigene Wohnung im selben Block wie Lara. Ich habe versucht, ein wenig von dem zurückzugeben, was ich bekam. Neben meiner beruflichen Tätigkeit leiste ich ehrenamtliche Arbeit in einem Tierheim und bei der Womenʼs National Commission, einer unabhängigen Beratungsstelle für Frauen. Ich habe vor, bald wieder zur Schule zu gehen und mich zur Friseurin ausbilden zu lassen, und ich hoffe, dass ich eines Tages mein eigenes Geschäft haben werde.
Vor einem Jahr habe ich mich in einen Engländer verliebt. Im Leben kann es keine Garantien geben, aber ich glaube, dass ich endlich jemanden getroffen habe, der mich so liebt, wie ich wirklich bin. Vielleicht habe ich nun bald so etwas wie ein normales Leben. Wir wohnen im Norden von England – einer Gegend mit grünen Bäumen, frischer Luft und freundlichen Gesichtern. Das ist nun endlich ein Zuhause für mich.
Heute denke ich zurück an die schrecklichen Dinge, die mir zugestoßen sind, und sie scheinen inzwischen weit weg zu sein. Nur in meinen Träumen oder in Momenten, in denen ich niedergeschlagen und deprimiert bin, kehrt der Schrecken zurück. Dann spüre ich erneut die Angst, die Gewalt und das Gefühl, nichts wert zu sein. Es macht mich so traurig, dass ich all das Schlimme der menschlichen Natur gesehen habe: Gier, Gefühllosigkeit, Grausamkeit und Selbstsucht. Ich wünschte,ich hätte die furchtbare Macht, die Männer über Frauen haben können, nicht miterlebt, wäre nicht Zeugin der Art und Weise geworden, wie Männer Frauen benutzen und dann wegwerfen und wie sie deren Körper wie Gegenstände behandeln, die nur ihrem eigenen Vergnügen dienen, oder sie wie Sklavinnen gefangen halten und Geld mit ihnen machen.
Was ist mit den Männern geschehen, die mich benutzt und dann weitergegeben haben? Wo mögen sie jetzt sein, und wen mögen sie in diesem Augenblick quälen? Ich denke an Ardy, den dummen, gierigen Jungen, und hoffe, dass sonst keine unter ihm so zu leiden hat, wie ich es tat. Ich wünsche mir, dass er eines Tages anfängt zu verstehen, was er getan hat, und erkennt, welchen Schaden er angerichtet und was für Schmerzen er verursacht hat.
Dann denke ich an Freundlichkeit – die Zärtlichkeit von Roberto, die Ermutigung durch Naz, die Treue und Beständigkeit von Lara, die Hilfe und Unterstützung, die ich vom Poppy Project erhielt – und ich versuche, mich daran festzuhalten und an das Gute zu glauben.
Der
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