Sie haben mich verkauft
bekam ich Angst.
»Wir sind jetzt so weit und können Sie verhören«, sagte sie. »Kommen Sie mit.«
Ich wurde in einen kleinen Raum geführt, in dem zwei Männer warteten.
»Dies ist Ihr Dolmetscher, und das ist Ihr Anwalt«, erklärte mir die Frau. »Und ich bin von der Abteilung Einwanderung und Sitte.«
Ich schwieg, als der Anwalt zu reden anfing und der Dolmetscher für mich übersetzte. Zum Schluss sagte er: »Wenn Sie uns etwas zu sagen haben, aber zu ängstlich sind zu reden, brauchen Sie keine Erklärungen abzugeben. Sie haben das Recht zu schweigen.«
Ich setzte mich aufrecht hin. »Schweigen? Ich will aber nicht schweigen. Ich will Ihnen meine Geschichte erzählen.« Ich hatte das überwältigende Gefühl, endlich die ganze Wahrheit sagen zu müssen. Diese Frau sollte wissen, was mir passiert war, sollte wissen, dass sie mich nicht nach Hause schicken konnte. Ich durfte nicht länger lügen.
Ich begann mit dem Tag, an dem Sergej ins Gefängnis gekommen war, und mit der Verzweiflung, die ich empfunden hatte. Ich erklärte, dass ich meine kleinen Kinder ernähren musste und weshalb ich die schwierige Entscheidung getroffen hatte, sie zu verlassen und in die Türkei zu gehen. Dann erzählte ich ihnen, wie man mich getäuscht, entführt und in eine Welt der Sklaverei und des Eingesperrtseins verkauft hatte. Ich erzählte ihnen von Sweta, Serdar und Ardy; dass ich meine Kinder seit fast drei Jahren nicht mehr gesehen hatte und mich so verzweifelt nach ihnen sehnte, dass ich meinte, sterben zu müssen. Zwei ganze Stunden lang redete ich.
Die Frau von der Einwanderungsbehörde hörte aufmerksam zu, und als ich fertig war, stellte sie mir viele Fragen. Es war schwer zu sagen, was sie von meiner Geschichte hielt, doch ich gab mir Mühe, nicht darüber nachzudenken. Ich wusste, dass ich so aufrichtig wie nur möglich sein musste, damit sie verstand, dass ich kein schlechter Mensch war.
Ich erzählte ihr auch von der Anwältin, zu der ich vor Monaten gegangen war.
»Aber Unterlagen über Sie haben wir nicht, Miss Kalemi«, sagte sie zu mir. »Es hat in Ihrem Namen keinen Antrag auf Aufenthaltsgenehmigung oder Asylgewährung für Großbritannien gegeben. Wann hat diese Anwältin Ihren Fall denn übernommen?«
»Vor sechs Monaten.«
»Vor sechs Monaten?« Sie wirkte überrascht. »Wieso hat das denn so lange gedauert?«
»Ich weiß nicht. Sie hat gesagt, sie würde sich melden, aber ich habe von ihr nichts mehr gehört.«
»Um diese Uhrzeit können wir sie nicht anrufen. Das geht erst morgen früh.«
»Aber was wird denn jetzt aus mir?«
Die Frau sah mich sehr ernst an. Ich sah Traurigkeit in ihrem Blick. »Frauen wie Sie werden für gewöhnlich ausgewiesen. Sie sind illegal hier, und es ist gut möglich, dass man Sie nach Hause schickt.«
Ich fing an zu weinen. »Aber Sie können mich doch nicht nach Hause schicken. Begreifen Sie denn nicht? Ich werde sterben.«
»Ich entscheide das nicht, tut mir leid«, sagte die Frau leise.
Keiner sagte ein Wort, und ich hätte am liebsten in die Stille hineingeschrien. Hatten diese Leute mir überhaupt zugehört? Meinten sie denn tatsächlich, sie könnten mich zurückschicken?
Die Frau sah mich an. »Da wäre nur noch eine Möglichkeit. Warten Sie bitte kurz.«
Sie stand auf und verließ den Raum. Nach etwa einer Viertelstunde kam sie zurück.
»Ich habe Neuigkeiten für Sie«, sagte sie. »Anfang des Jahres ist in Großbritannien eine besondere Wohltätigkeitsorganisationgegründet worden. Sie nennt sich ›Poppy Project‹. Im Rahmen dieses Projekts wird mit Frauen gearbeitet, die Opfer von Mädchenhandel wurden. Es gibt Häuser für Frauen wie Sie, da können Sie bleiben, und man hilft Ihnen, Ihren Fall bei der Einwanderungsbehörde darzulegen. Viele freie Plätze gibt es nicht, aber ich habe eine Freundin angerufen, die diese Leute kennt, und sie wird anfragen, ob sich ein Platz für Sie findet. Morgen früh wissen wir mehr.«
»Heißt das, ich könnte in England bleiben?«, fragte ich.
»Ich weiß nicht«, antwortete sie. »Sicher ist das nicht. Wollen wir einfach hoffen, dass die Ihnen helfen können.«
Ich wurde in meine Zelle zurückgeführt, und als ich sah, wie sich hinter dem Fenster die Nacht in die Morgendämmerung verwandelte, betete ich, der Tag möge nicht beginnen. Vielleicht würde man mich ja doch ins Gefängnis stecken, obwohl Naz etwas anderes gesagt hatte, oder vielleicht wäre es der Tag, an dem ich England endgültig verlassen
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