Sie haben mich verkauft
Stehende tun, um zu verhindern, dass man mich nach Hause schickte.
Die Kinder waren ja schon im Waisenhaus. Auch wenn Tamaras Freund zur Polizei ging, war es unwahrscheinlich, dass man sie noch härter bestrafte. Ich würde mir die größte Mühe geben, im Lauf der Zeit zurückzuzahlen, was sich die Kinder genommen hatten, aber fürs Erste konnte ich nichts weiter tun als beten, dass Sascha und Luda wenigstens noch zusammen waren.
KAPITEL 39
L ärm schlug mir entgegen, als ich das Restaurant betrat. So viele Wochen war ich jetzt schon allein, dass ich solch
einen Geräuschpegel nicht mehr gewöhnt war. Es war der 23. Dezember, und ich war zur Weihnachtsfeier von Poppy eingeladen. Ein paar Tage zuvor war ich aus dem »Zufluchtshaus« in ein anderes Haus im Norden der Stadt verlegt worden, und in ein paar Wochen würde ich mit meinem Englischkurs anfangen.
Dies war für mich nach wie vor die schlimmste Zeit des Jahres. Inzwischen hasste ich das Weihnachtsfest nur noch, denn es erinnerte mich daran, wie weit weg ich von meinen Kindern war. Gedanken an sie gingen mir durch den Kopf. Ich wusste, Ira tat alles, was in ihrer Macht stand, doch es fühlte sich falsch an, dass ich in Sicherheit war, meine Kinder aber nicht. Ich hatte immer noch keine Ahnung, wo Pascha war, obwohl Sally mir von Leuten erzählt hatte, die dabei halfen, Familien wieder zusammenzuführen. Ich hoffte, dass wir gemeinsam meinen Sohn finden würden. Bis dahin würde mich pausenlos das Wissen quälen, dass er verschwunden war.
Wut kochte in mir hoch, als ich mich in dem Restaurant umschaute und die Tische sah, an denen all diese lächelnden Leute saßen. In letzter Zeit brodelte meine Wut immer knapp unter der Oberfläche. Den einen Moment war ich noch ganz in Ordnung und im nächsten bebte ich vor Zorn. Dieser Zorn richtete sich manchmal auf eine konkrete Person – Murat, der mich im Stich gelassen hatte, Ardy, der mich verkauft hatte,Sergej, der mich geschlagen hatte –, aber zu anderen Zeiten stieg er aus den nichtigsten Anlässen in mir hoch. Heute war ich wütend, weil ich nichts Nettes zum Anziehen hatte. In dem langen Strickrock und dem Polopullover fühlte ich mich grässlich. Ich wollte mit keinem reden. Es war mir zu peinlich, wie schlecht ich aussah.
»Oxana?« Das war Sally. Sie saß an einem langen Tisch mit lauter Frauen. »Wir haben Ihnen einen Platz reserviert, und wir haben auch etwas für Sie.« Sie zeigte auf eine große Tüte. »Da sind Geschenke drin, also suchen Sie sich eins aus.«
Ich ging hin, griff in die Tüte und nahm ein Päckchen. Es war in silbernes und blaues Glanzpapier eingewickelt; Frohe Weihnachten stand darauf. Ich setzte mich an den Tisch, machte es auf und hielt eine Körperlotion, Seife und Parfüm in den Händen. Jemand wünschte mir frohe Weihnachten. Ich konnte mich gar nicht daran erinnern, wann ich das letzte Mal ein Geschenk bekommen hatte. Tränen brannten mir in den Augen.
Ich hob den Kopf und betrachtete die anderen Frauen, die anwesend waren. Ich hatte noch gar nicht zur Kenntnis genommen, wer sonst noch am Tisch saß, aber jetzt sah ich, dass gut dreißig Frauen um mich herum waren. Schwarze Gesichter, weiße Gesichter, asiatische Gesichter – Frauen aus allen Teilen der Welt. Mir blieb die Luft weg. Die mussten alle eine ganz ähnliche Geschichte zu erzählen haben.
Ich war entsetzt. Natürlich hatte ich im Lauf der Zeit ein paar Frauen kennengelernt, die verkauft worden waren, aber ich hatte keine Ahnung gehabt, dass es so sein würde – wir waren so viele. Ich war nicht allein. Ich war nicht die Einzige, die so dumm gewesen war, die Lügen zu glauben, die man ihr aufgetischt hatte. Mir kamen die Tränen, als ich mich am Tisch umschaute und all diese Gesichter sah. Manche Frauenlachten, andere waren ernst, aber alle waren sie hier. Genau wie ich hatten auch sie überlebt. Aber wie viel mehr hatten dieses Glück nicht gehabt? Wie viele würden sich heute Nacht an Männer verkaufen, die sich weigerten, die Angst in ihren Augen zu sehen?
Endlich wurde mir klar, dass ich nicht einfach nur Glück gehabt hatte, als die Leute von Poppy mich fanden. Gott hatte einen Weg gewählt, und nun wies er ihn mir. Ich musste ihm bloß noch folgen. Allzu lange hatten Leute mich eingesperrt, mich unterdrückt und mich gefangen gehalten. Jetzt hatte ich eine echte Chance auf ein neues Leben, und die musste ich ergreifen. Wie all die anderen Frauen um mich herum war ich nicht die Einzige, der das passiert
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