"Sie koennen aber gut Deutsch!"
denn die Hierarchie, die soll schön bleiben. Für solche Menschen, die das Multikulturelle eigentlich lieben, manchmal geradezu
vergöttern, nur eben aus einem bestimmten Blickwinkel heraus, hat der Migrant immer einen niedrigeren Intelligenzquotienten zu haben als der Deutsche, sagt die Rechtsanwältin Seyran AteÅ. Sie, Tochter von Migranten der ersten Generation, die gegen Zwangsheirat und Ehrenrechte kämpft, hat sich mit dem Angriff auf den Mulitkulti-Irrtum nicht nur Freunde gemacht. »Sie schauen sich unsere Entwicklung an wie in einem Zoo. Nach dem Motto: Mal gucken, wie der anatolische Bauer sich entwickelt«, erklärt sie.
Familien wie die meine waren ein Geschenk für solche Helfer. Juden aus der ehemaligen Sowjetunion, aus dem Kommunismus, Akademiker, in einem Asylbewerberwohnheim hinter Stacheldraht in ein zwölf Quadratmeter groÃes Zimmer gepfercht. Sie kamen, sie brachten uns Sachen, die wir nicht unbedingt brauchten, sie lehrten uns Deutsch, sie tranken russischen Tee und probierten â meist zögerlich erst â unser russisches Essen. (An die selbst gesammelten und eingelegten Pilze, den besonderen Stolz einer russischen Seele und einer russischen Küche, traute sich fast niemand.) Sehr nett, all diese Hilfsaktionen, an sich sehr nett.
Den Unterschied zwischen denjenigen, die kamen, um zu helfen, und denjenigen, die kamen, um zu helfen und später sagen zu können: »Ich habe da übrigens vor Kurzem ein paar aus der Sowjetunion geflohenen Juden geholfen«, spürte sogar ich als Kind. Oder vielleicht besser: spürte ich insbesondere als Kind. Ãber die einen freute ich mich, für die anderen schämte ich mich. Ich schämte mich damals häufig, für mich selbst, für mein Zuhause hinter Stacheldraht, meine aus Russland mitgebrachten Sachen, auch für meine in ihrem neuen Zuhause unsicheren, russischen Eltern schämte ich mich. An den Tagen, an denen die so genannten Gutmenschen kamen, schämte ich mich für sie fremd. Ich spürte den Unterschied genau, in
Worte fassen konnte ich ihn nicht. Heute kann ich es. Oder lasse es vielmehr diejenigen, die schon damals gerne laut über ihre guten Taten sprachen, auch heute noch für mich in Worte fassen.
Ich habe eine Lesung in der Nähe der Stadt, in der das Asylbewerberwohnheim stand. Lesungen in der Heimat sind emotional aufwendig, zu viele ehemalige Lehrer, flüchtige Bekannte, zu viele Gesichter, die einen zu kennen meinen. Ãber manche freut man sich, vor anderen fürchtet man sich, manch einer wirkt einfach fehl am Platz. Die Geister, die heute die längste Zeitreise gemacht haben, heiÃen Frau B. und Herr O., und beide kenne ich aus dem Wohnheim.
Frau B. habe ich vor nicht allzu langer Zeit beim Geburtstag meiner Mutter gesehen, seit beinahe zwanzig Jahren sind sie und ihr Mann nun Freunde der Familie, sie kamen damals ins Wohnheim, um zu helfen, sie lernten mit meinem Vater Deutsch, sie fragten nach uns. Woher wir kommen, wer wir sind, was wir mögen, was wir lesen, warum wir hier sind. Wir lernten uns gegenseitig kennen. Ich fuhr regelmäÃig mit dem Fahrrad bei ihnen zuhause vorbei, um Bücher aus ihrer groÃen Bibliothek auszuleihen, und wenn ich die Bücher zurückbrachte, wollten sie wissen, wie sie mir gefallen hatten. Nicht, weil ich ein kleines jüdisches Mädchen aus Russland war, sondern weil wir gerne über Bücher sprachen, sie und ich. Ich bin stolz, weil Frau B. zur Lesung kommt, sie kennt sich mit Literatur aus.
Herrn O. habe ich seit dem Wohnheim nicht mehr gesehen. Auch er kam damals, um zu helfen, er lernte mit meinem Vater Deutsch, er erzählte viel, wie die Dinge in Deutschland laufen, hauptsächlich im Schwabenland, er brachte uns unseren ersten Weihnachtsstollen, wer in Deutschland lebt, müsse Weihnachtsstollen kennen, er schenkte mir ein paar
Reclam-Hefte, Lessing und Goethe, ich müsse die deutschen Dichter kennen; ich kannte die Bücher bereits. Gealtert ist Herr O. seit meinen Wohnheimtagen, sind ja auch beinahe zwanzig Jahre seither vergangen. Herr O. weicht mir nach der Lesung nicht von der Seite, und so fühle ich mich nach einer Viertelstunde verpflichtet, ihn der Veranstalterin neben mir vorzustellen.
»Das ist Herr O., ein Bekannter meiner Eltern«, sage ich, und die Veranstalterin will ihm die Hand schütteln, aber er schaut mich erwartungsvoll an. Ich blicke auf den Boden, wohl
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