"Sie koennen aber gut Deutsch!"
Aber dazu kommt es ja auch in die Schule: um zu lernen. Um sich zu bilden. An dieser simplen, aber doch bestechend einfachen Einsicht mangelt es erstaunlicherweise in den Köpfen so vieler, sich beklagender Lehrer. Die Bildungsferne der Eltern muss nicht zwangsläufig auf ihre Kinder übertragen werden. Die Aufgabe, ihnen Bildung näherzubringen, ist in diesen Fällen die Aufgabe ihrer Lehrer, die im besten Fall mit den Eltern kooperieren. Wissen diese aufgrund eigener fehlender Bildungserfahrungen jedoch nicht, wie sie ihren Kindern helfen können, gilt es, sie an die Hand zu nehmen und ihnen dabei Wege zu zeigen. Oft mangelt es auch â und das ist unbestritten â am Willen, weil der Wert von Schule und Bildung nicht erkannt
wird. So traurig das ist, das Bildungssystem muss versuchen, diesen Unwillen aufzufangen, weil Kinder es nicht verdient haben, in solch einem frühen Alter aufgegeben zu werden.
Als ich D. kennenlernte, war sie acht Jahre alt. Ich lernte sie kennen, weil mir bei einer Zugfahrt, ich kehrte soeben von einer Lesereise zurück, einfiel, es sei mal an der Zeit, dass ich etwas tue. Ich schaute aus dem Zugfenster, sah in der Dunkelheit nur noch Umrisse an mir vorüberziehen, freute mich auf Zuhause und lieà die letzte Lesung im Kopf noch einmal Revue passieren. Die Besucher hatten gefragt, wie so häufig, wie ich Deutsch gelernt hätte, so schnell und so gut. Der eine oder andere Lehrer, der eine oder andere in der interkulturellen Arbeit Aktive hatte von Schwierigkeiten mit Kindern oder Jugendlichen berichtet, die nicht oder so schlecht Deutsch sprächen, als könnte ich daran etwas ändern, als wären wir in einer Selbsthilfegruppe zusammengekommen oder als sei ich eine Art Beratungsstelle zu diesem Thema. Ich bin in solchen Momenten immer hin und her gerissen zwischen der Entrüstung über diese Art von Wortmeldungen, immerhin sind wir hier doch bitte immer noch bei einer literarischen Lesung, und dem Bedauern darüber, dass ich diesen Menschen nicht pauschal einen passenden Ratschlag erteilen kann. Jedenfalls ging mir all das durch den Kopf, während ich müde, aber alles in allem doch zufrieden aus dem Fenster blickte, zu faul zum Lesen war, und ich begann, darüber nachzudenken, wie ich denn tatsächlich Deutsch gelernt hatte, so schnell und so gut. Da fielen mir all die Menschen ein, denen ich damals, als ich noch kein Deutsch sprach, durch glückliche Zufälle begegnete und die mir das, was ich heute bin und tue, mit ermöglicht haben, indem sie einfach eines taten: sich für mich interessierten. Ein begabter, an seinen Schülern höchst interessierter Grundschullehrer, eine Taxifahrerin aus einer Bauernfamilie, die ein
Gespür für Kinder hatte, das den meisten Erziehern fehlt, ein Pfarrer-Ehepaar, deren Büchersammlung mir jederzeit als Bibliothek zur Verfügung stand. Ein einfaches »Was machst du gerne?«, und mein wie aus der Pistole geschossenes »Lesen« hatte mir den Zugang zur deutschen Literatur geöffnet. Dass ich bei Ferienbesuchen auf dem Bauernhof dafür zuständig war, morgens im Hühnerstall die Eier einzusammeln, hatte dazu geführt, dass ich nach den Sommerferien mit den deutschen Zahlen kaum noch Schwierigkeiten hatte. Kein Lerndruck, keine Erwartungen, nur die Freude eines Kindes, das in dreckigen Klamotten auf einem Bauernhof herumtobte. Die aus meiner Sicht erst einmal naive Aufforderung, eine Geschichte über meine Geburtsstadt Sankt Petersburg zu schreiben, naiv deshalb, weil ich aus meiner Sicht doch kein Deutsch konnte, schon gar nicht genug Deutsch, um eine Geschichte in dieser so schwierigen Sprache zu verfassen, bewies mir, dass ich entgegen meinen andauernden Zweifeln auch in diesem Land das sein könnte, was ich schon seit frühester Kindheit war: eine Geschichtenerzählerin. Ich dachte also bei jener Zugfahrt an all diese Menschen, hatte plötzlich das dringende Bedürfnis, ihnen allen einen Brief zu schreiben, und schrieb stattdessen trotz Müdigkeit spontan einen an eine Organisation, die ein so genanntes Mentoring-Programm für Migranten anbot und von der ich viel Gutes gehört hatte. In dem Moment hatte ich das Gefühl gehabt, gehofft, vielleicht auch so ein Mensch für jemanden sein zu können. So jedenfalls lernte ich D. kennen.
D. war acht Jahre alt und lebte in einem Stadtviertel, in dem ich vorher noch niemals gewesen bin und
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