Sie sind Dein Schicksal
die ›Gerüchte‹ schon verbreitet hatten, dass ich das ›Schoßtier eines Blutegels‹ war, verlockte mich nicht.
Doch bald trieben mich der Hunger und das Verlangen zu erfahren, wo zur Hölle Chaz war, aus dem Bett. Ich machte mir nicht die Mühe zu duschen. Stattdessen zog ich ein T-Shirt und Jeans aus der einsamen Tasche, die unseren gestrigen »Besuch« überlebt hatte und jetzt die Gesamtheit meiner Garderobe enthielt. Ich zog mich an, schlüpfte in meine Schuhe und die Wanderjacke und ging nach draußen, wo ich mir eine Hand über die Augen hielt, um meine Umgebung zu mustern.
Die Sonne stand ein gutes Stück über dem Horizont, und der Himmel zeigte ein strahlendes Blau, an dem nicht eine einzige Wolke auf Regen hinwies. Im Unterholz sangen fröhlich die Vögel, und die Luft roch sauber und frisch. Es war wärmer als gestern, aber das Gras war noch nass, und die Wege waren immer noch schlammig. Wenn ich trotzdem mit Nick und Sean auf eine Wanderung gehen wollte, würde ich meine Wanderschuhe tragen müssen, nicht meine Turnschuhe. Glücklicherweise hatten sie die Verwüstung überlebt.
Ich atmete tief durch und genoss die klare Bergluft, als ich mich auf den jetzt längeren Weg zur Lodge machte. Ein Pärchen, das sich auf den Stufen vor seiner Hütte eine Tasse Kaffee teilte, winkte mir lächelnd zu, als ich vorbeikam. An der Menge von Haaren auf ihren Armen und Handrücken konnte ich, genau wie an dem dunklen Bartschatten des Mannes, erkennen, dass sie Werwölfe waren. Vielleicht hatte sich meine Bindung an Royce ja doch noch nicht im ganzen Rudel herumgesprochen. Ich war mir nicht sicher, wer sonst noch hier Urlaub machte, aber ich hatte im Speisesaal auch schon Leute gesehen, die nicht zum Rudel gehörten. Es war gut zu wissen, dass einige der anderen Gäste hier keine Probleme mit den Sunstrikern hatten, denn sonst wäre der Rest des Wochenendes schier unerträglich geworden.
Jetzt fühlte ich mich schon ein bisschen besser und ging beschwingten Schrittes weiter. Im Spielzimmer waren ein paar Leute, die sich lautstark amüsierten, aber der Speisesaal war quasi leer. Mrs. Cassidy räumte gerade noch einen Tisch ab, aber sie lächelte mir freundlich zu und nickte, als sie sah, wie ich mich unter eines der Fenster setzte.
Ich fragte mich, wo alle waren. In einer Ecke saß ein dünner, wie ein Nerd aussehender Kerl, der ein Taschenbuch las, während er einen Toast mampfte. Er gehörte nicht zu den Sunstrikern, auch wenn ich ihn schon gestern mit ein paar anderen Kerlen hier gesehen hatte. Noch ein Fremder saß am anderen Ende des Raums und las Zeitung. George und Daisy, die Barkeeperin, hockten mit zusammengesteckten Köpfen nebeneinander, und ich konnte sehen, dass sie sich immer wieder gegenseitig berührten und sich sanft zulächelten. Sie bildeten ein ungleiches Paar, da er so groß war und sie so klein, aber sie schienen glücklich zu sein. Ich konnte nicht sagen, ob das Mädchen menschlich war, aber George war meiner Einschätzung nach ein Werwesen. Aufgrund seiner Größe und seiner schwerfälligen Bewegungen ging ich nicht von einem Wolf aus. Nein, irgendwas anderes. Etwas Größeres. Viel leicht ein Bär.
Ein paar Minuten später kam Mrs. Cassidy mit einer Tasse und einer Kanne Kaffee zu mir. »Ihr junger Mann hat die Hände voll zu tun mit diesem armen Jungen, der sich diesen Monat zum ersten Mal verwandelt. Er hat gesagt, Sie würden vielleicht nach ihm Ausschau halten.«
Ich zog eine Augenbraue hoch und legte wärme suchend die Hände um die Tasse, als sie mir Kaffee eingoss. »Oh, da ist er also? In Ordnung.«
»Mmmm. Kann ich Ihnen in der Zwischenzeit irgendwas bringen? Ich habe frische Blaubeerpfannkuchen.«
»Das klingt wunderbar, danke.«
»Okay, kommt sofort. Machen Sie sich nur keine Sorgen um Ihren Jungen. Er wird schon auftauchen, sobald der Neuling sich ein wenig beruhigt hat.«
Ich hatte mir eigentlich keine besonderen Sorgen gemacht, aber ihre wiederholten Beruhigungsformeln brachten mich dazu, darüber nachzudenken, ob ich es vielleicht tun sollte. Auf mein gedankenverlorenes Nicken hin sauste sie davon und schlängelte sich geschickt zwischen den Tischen hindurch, um auch die Tassen von George und seinem Mädchen aufzufüllen, gefolgt von dem Nerd in der Ecke. Bis auf das leise Flüstern der Turteltäubchen war alles still, und während ich an dem Kaffee nippte, der vom langen Stehen auf der Wärmeplatte schon bitter war, dachte ich darüber nach, was ich mit all den
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