Sie waren zehn
groß gegen Rußland?«
»Wer sagt das?«
»Alle. Amerika, Deutschland, Frankreich … alle besser als Rußland!«
»Das hat aber nichts mit der Fläche der Länder zu tun.« Er räkelte sich und gähnte. »Schlaf jetzt, Lyranja.«
»Gute Nacht, Kyrill.« Ihre Stimme war kindlich klein. »Ich möchte von deinem Deutschland träumen.«
In der Nacht öffnete sich leise die Tür, und Tamara huschte ins Zimmer.
Wie früher als Kind schlüpfte sie zu Lyra ins Bett und kuschelte sich an sie.
»Ich habe Angst, Mamuschka«, flüsterte sie, um Väterchen nicht zu wecken. »Ich habe Angst vor den fremden Menschen und dem fremden Land.«
»Ich auch, Dotschaska (Töchterchen)«, flüsterte Lyra Pawlowna zurück. »Aber sag es nicht und zeig es nicht! Sei ein fröhliches Mädchen. Es ist Väterchens Heimat – das mußt du respektieren …«
Der erste Tag begann mit behördlichen Fragen, dem Ausfüllen langer Fragebogen, dem Fotografieren für die Kennkarte, die man Personalausweise nannte, und den vorbereitenden Maßnahmen für den Weitertransport. Die meisten Umsiedler hatten es einfacher als die Kuehenbergs; sie hatten Verwandte, zu denen man sie schicken konnte, oder sie bekamen eine Einweisung in landwirtschaftliche Betriebe, wo sie sich akklimatisieren konnten. Auch Handwerker konnten an Fabriken, sogenannte Umlehrbetriebe, vermittelt werden, die Spätaussiedler – welch ein herrliches deutsches Beamtenwort! – umschulten oder in den Arbeitsprozeß eingliederten. Der Staat half dabei bis zu einem gewissen Zeitpunkt, bis er annehmen konnte, daß der neue deutsche Mensch nun voll eingegliedert sein müßte.
Bei Asgard Kuehenberg war alles anders.
Er wurde als letzter des Transportes in die Verwaltung gerufen, durchlief nicht die vielen Einzelstationen, sondern wurde in ein Zimmer geführt, in dem ein Mann auf ihn wartete. Er trug einen guten, hellgrauen Anzug, war von mittlerem Alter, hatte forschende Augen unter einer hohen Stirn und trug die braunen Haare modisch lang, jedenfalls länger als die Beamten, die Kuehenberg bisher in Friedland gesehen hatte. Der Mann sprang sofort auf, als Kuehenberg eintrat, und verbeugte sich leicht.
»Heinz Wildeshagen«, stellte er sich vor. »Es freut mich, Sie kennenzulernen. Wie fühlen Sie sich?«
»Gut«, antwortete Kuehenberg vorsichtig. Er umfaßte mit einem Blick die Situation. Sie waren allein im Raum, auf dem Tisch lag ein Aktenstück, neben dem Tisch lehnte eine schwarze Diplomatentasche. Das Fenster zur Lagerstraße war trotz der Hitze geschlossen, der Vorhang sogar zugezogen. Eine angenehme Dämmerung lag im Zimmer, die die Kahlheit der Möblierung dämpfte. Heinz Wildeshagen wies auf einen gepolsterten Stuhl vor dem Tisch. Er selbst blieb vor seinem Stuhl hinter dem Tisch stehen.
»Wollen wir uns setzen?«
»Wenn es nötig ist …«
Kuehenberg setzte sich. Dabei fiel sein Blick auf den Deckel des Aktenstückes. Deutlich konnte er lesen: Wildgänse – 1944 . Dazu ein Streifen quer über den Deckel. Geheime Dienstsache.
»O Gott«, sagte Kuehenberg. »Muß das sein?! Woher haben Sie den Mist?«
Heinz Wildeshagen ließ sich auf seinen Stuhl fallen und legte die Hände flach über das Aktenstück.
»War Ihnen nicht klar, daß alle Akten von Canaris ausgelagert und über den Krieg gerettet worden sind? Nach der Hinrichtung von Admiral Canaris im Verfolg des 20. Juli 1944 haben die neuen Leiter der Abwehr, Kaltenbrunner und Schellenberg, sofort alle Schriftstücke an sich gerissen. Mit der Übernahme der gesamten Abwehr durch die SS kam ein anderer Wind, kein besserer. Aber das haben Sie ja nicht mehr erlebt.«
»Wir haben nur davon gehört.« Kuehenberg lehnte sich zurück. Wildeshagen bot ihm eine Zigarette an – er nahm sie, rauchte ein paar Züge und mußte sich erst an das süßliche Aroma gewöhnen, das so ganz anders war als der beißendstarke Qualm der Machorkazigaretten oder der langen Papyrossi mit dem Pappmundstück. Dann zeigte er mit der brennenden Spitze auf die Akte. »Was soll das alles? Nach vierunddreißig Jahren?! Das ist erledigt.«
»Das Unternehmen Wildgänse befand sich bei den Akten, die dem Amerikaner in die Hände fielen. Als in der BRD das ›Amt Gehlen‹ zu arbeiten begann, kam die Akte erst in der Fotokopie, dann im Original zu uns zurück. General Gehlen – Sie kennen ihn?«
»Flüchtig! Er hat uns im Namen von Admiral Canaris kurz begrüßt. Wir hatten mit der Abteilung ›Fremde Heere Ost‹ kaum etwas zu tun. Wir waren ein
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